Das Geständnis der Amme
über mich herrschst. Wenn wir über die Alpen ziehen, dann geschieht es, weil ich es so möchte und weil ich es so beschließe, in aller Freiheit – solange ich sie denn habe. Ich möchte nicht von dir gelenkt und hernach belohnt werden, weil ich tue, was du für richtig hältst!«
Er sprach gehetzt, aber sehr leise, als wagte er nicht, sein Widerstreben in offenkundig vorwurfsvolle Worte zu kleiden. Dass er sie nicht ansah, schien ihm das Sprechen leichter zu machen, denn in dem Augenblick, da er herumfuhr und seine Augen ihre trafen, verstummte er.
»Ich beherrsche dich doch nicht, Balduin …«
»Aber du würdest es gerne tun! Warum sonst trittst du zu mir, warum streichelst du mich, wenn nicht darum? Es treibt dich doch kein Begehren! Kaum wende ich mich dir zu, überlässt du mir deinen Körper und scheinst nicht länger damit zu tun zu haben.«
»Balduin, du weißt doch, wie teuer du mir bist«, murmelte sie. »Wäre ich dir sonst gefolgt? Und was die Regungen meines Leibs anbelangt, nun, ich werde versuchen …«
»Verdammt, Judith!«, fiel er ihr ins Wort, und diesmal schrie er. »Ich will nicht, dass du so bist wie die anderen Frauen in meinem Leben und dass du dich an mich verkaufst wie sie! Du musst nichts versuchen, du musst dich zu nichts zwingen, du musst mir nichts beweisen! Was immer auch geschieht, ich werde für dich … für uns kämpfen. Weil ich das will. Weil ich dich will. Weil ich alles für dich tun werde, gleich, was ich dafür bekomme. Nimm es hin, ja? Nimm es einfach hin!«
Sie fühlte kleine Tröpfchen seines Speichels; sie schienen in ihre Haut zu sickern, immer tiefer, schienen sich bis in ihre Brust zu graben. Einst hatte sie in einer Schrift gelesen, woraus der menschliche Körper beschaffen war – nämlich aus Wasser, aus Schleim, aus Blut und aus Eiter. Nicht nur, dass es sie geekelt hatte, vor allem hatte sie sich nicht vorstellen können, dass ihr Inneres flüssig war. Zumindest ihre Brust, hatte sie sich gedacht, musste aus kleinen, festen Knoten bestehen, unentwirrbar, versteinert.
Sie wollte etwas sagen, den Ärger beschwichtigen, der durch seine Worte hindurchklang. Doch es kam kein Wort hervor, nur ein Schluchzen, heiser und gequält. Es schien ihr vollkommen missraten, und sie suchte es zu übertönen, indem sie erneut zu einem Wort ansetzte. Wieder brachte sie keines zustande, nur Tränen quollen aus den Augen. Sie hatten sich nicht angekündigt, sondern flössen einfach heraus, kullerten über ihre Wan-gen. Nicht nach und nach, sondern augenblicklich schienen diese nass zu werden.
»Judith …«, stammelte Balduin.
Es war zu spät, sie einfach fortzuwischen, ihm vorzumachen, dass es diese Tränen nicht gäbe. Immer mehr davon traten über ihre Augen und bahnten sich den Weg zu ihrem Kinn.
»Du weinst?«, fragte er.
»Noch nie hat jemand so etwas zu mir gesagt«, stammelte sieschluchzend. Sie fühlte sich wie leergetrunken, doch am Grund des Bechers witterte sie nicht Verlust, sondern Hoffnung – Hoffnung, den riesigen Raum der Seele neu füllen zu können.
Verwirrung breitete sich über Balduins Gesicht aus. Er schien nicht recht deuten zu können, was sie meinte, ob sie empört und verletzt war oder vielmehr gerührt.
Da beugte er sich einfach vor und küsste ihre Tränen. Seine Lippen waren gleichermaßen rau wie weich, fordernd und zurückhaltend, hart und zärtlich. Sie schmeckte diese Lippen, so wie sie ihre Tränen schmeckte, salzig und heiß, und kurz hoffte sie, es festhalten zu können – sein Begehren nach ihrem Körper, vielleicht auch ihres nach dem seinen. Kurz vermochten seine Küsse, es zu entfachen und in ihr eine Gier heraufzubeschwören, die sie nicht kannte, die Gier, sich in seine Arme fallen zu lassen, darin zu vergehen und als neuer Mensch wieder aufzuerstehen. Doch was immer er ihr einhauchte – sein Odem geriet nicht stark genug, um mehrere hektische Atemzüge ihrerseits zu überdauern. Die Wärme, mit der er sie ausfüllte, flackerte alsbald wie eine verlöschende Kerze. Der Hunger nach seinem Leib ward nach dem ersten Bissen gezügelt. Noch während sie ihr Gesicht an seines hielt, ihren Körper an seinen presste, seinen Nacken umschlang, fühlte sie bereits, wie jene lustvollen Wellen abebbten, noch ehe sie ihren ganzen Leib erfasst hatten, wie ihre Sehnsucht nach seiner Nähe – eben noch hitzig glühend – sanft entschlief. Sie wusste nicht, ob sie diese letzte Hingabe jemals würde aufbringen können, ob sie sich seinem
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