Das Geständnis der Amme
Jahren hatte dieser selbst eine Pilgerreise nach Rom unternommen und meinte deshalb zu wissen, was es hieß, die Alpen zu überqueren.
»Das ist die falsche Jahreszeit ! «, äffte Judith seinen Tonfall nach. »Im Sommer kann man es wagen, ohne um Leib und Leben zu fürchten. Aber nun geht es auf den Winter zu, und man schafft es unmöglich über die unwegsamen Bergrücken, die zum Himmel strebenden Felsen und das raue Gestein, wenn alles verschneit und vereist ist!«
Judith machte eine kurze Pause. »Ich habe geantwortet, dass ich keine Wahl hätte«, setzte sie, scheinbar unberührt von den Worten des Priesters, hinzu. Doch Balduin entging nicht, dass sich ein Runzeln auf ihre glatte Stirn stahl, wohl auch, da sie nach der eiskalten Nacht im Wald zu kränkeln begann.
Er hatte sie bislang meist robust erlebt – selbst auf der tagelangen Flucht von Senlis. Sie war zart und oft blass, und an ihrem Körper hatten die Strapazen gezehrt. Doch sie hatte sichimmer als willensstarke Frau erwiesen, die über Erschöpfung und Schmerz einfach hinwegging, als gäbe es das nicht. Nun hörte er sie immer öfter husten, und das Wetter machte jenes Leiden nicht besser. Zwar wurde ihre größte Angst – jene vor einem baldigen Schneefall – nicht erfüllt, doch der stete Nieselregen tauchte ihren Zug in so triste Farben, dass Balduin manchmal den Eindruck hatte, sie bewegten sich nicht in Richtung der Ewigen Stadt, sondern wären in einem grauen Niemandsland gefangen, hinter der Grenze der gottgewollten Welt.
Was half es, dass es für Ende November ungewöhnlich mild war, wenn die Kleidung stets klamm am Leib klebte und der graue Schleier, der die Landschaft verbarg, den wachen, neugierigen Blick langsam tötete?
Balduin versuchte, seiner schlechten Laune nicht nachzugeben, doch er wurde zunehmend ungehalten, wenn Joveta als Einzige ebenso hartnäckig plapperte, wie der dünne Regen auf die Blätter platschte, wenn Johanna verbissen über Judith hinwegblickte und wenn Judith auf seine besorgten Fragen stets dasselbe antwortete: dass sie sich wohlfühle und ihr Husten nichts zu bedeuten habe.
Die Einzige, die sein Gemüt nicht reizte, war Madalgis. Sie war derart still, dass er ihre Gegenwart manchmal vergaß, und wenn sie ihm wieder auffiel, fragte er sich, warum sie sich die gefährliche Reise antat. Gewiss, in jener Nacht in Senlis, da sie ihn vor Judiths Gemach ertappt hatte, war ihm das ganze Ausmaß ihrer Treue aufgegangen, die nicht ihm, sondern Judith galt. Doch befremdlich deuchte ihn, dass diese Treue, vielleicht sogar Liebe, sich nun gar nicht zeigte, sondern Madalgis die Königin ähnlich zu meiden schien wie Johanna. Joveta war es, die regelrecht an Judith klebte und deren Nerven sicherlich ebenso strapazierte wie die seinen. Doch Madalgis gebärdete sich wie eine Fremde, die auf Judiths Fragen so ausdruckslos und knapp wie möglich antwortete.
Warum aber riskierte sie ihr Leben für die Königin?
Balduin machte sich nichts vor: In dieser Jahreszeit bedeuteteeine Reise nach Rom nichts anderes, als sich der Gnade Gottes vollkommen auszuliefern. Wer genug Geld aufbringen konnte, der nutzte den Seeweg von Arles ausgehend und nahm in Kauf, lieber in einen Sturm zu geraten und zu ersaufen, als über die Felswände zu stürzen. Gewiss hatte der Teufel diese selbst errichtet, um die Schönheit und Weite der göttlichen Schöpfung zu verunstalten.
Dies zumindest hörte man in jenem Lager, das sich am Fuße der Berge nicht weit vom See von Saint-Maurice gebildet hatte: ein Ort, an dem die Pilger – ob sie nun von Norden kamen und die Alpenüberquerung noch vor sich hatten oder aber vom Süden zurück in ihre Heimat kehrten – bereits eine auszehrende Reise hinter sich hatten. Auch Balduin wollte sie hier für zwei Tage neue Kräfte sammeln lassen, ehe sie sich an den gefährlichsten Teil der Reise wagten, die Strecke über den Mons Jovis Richtung Aosta.
Mehrere Hospize, Gasthöfe und Pferdewechselstationen befanden sich hier, doch nicht alle Reisenden konnten sich diese leisten und nahmen im Zeltlager Zuflucht, das an einem regnerisch trüben Tag wie diesem noch grauer schien. Dort, wo keine Zelte standen, war der Boden matschig und unbegrast und kündete von einem viel größeren Ansturm von Reisenden in der wärmeren Jahreszeit. Balduin und Judith fanden mit ihrem Gefolge in einer der Herbergen Unterschlupf. Doch die mürrische Wirtin mit ihren langen Zöpfen, die fast bis zum Boden reichten und dessen Schmutz
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