Das Geständnis der Amme
schütteln. »Du weißt doch, was du zu tun hast!«
Er öffnete seinen Mund, aber er konnte noch immer nicht sprechen. »Ich habe sie gesehen«, raunte sie da. »Ich habe das Wüten der Normannen mit eigenen Augen gesehen. Es sind keine menschlichen Wesen, sie beherrschen unsere Sprache nicht. Wie Tiere sind sie, wie Wolf und Bär zusammen, aber noch viel blutrünstiger, noch viel grausamer. Du musst mich vor ihnen beschützen! Tust du das?«
Balduin nickte zaghaft.
»Tust du das?«, rief sie eindringlich.
»Ich werde stark werden«, stammelte er, »und ich werde die Normannen besiegen.«
Obwohl er endlich aussprach, was sie von ihm verlangte, übermannte ihn das Elend erneut. Kaum war das letzte Wort gesagt, brach er wieder in Tränen aus.
Johanna wischte sie ihm ab.
»Ein tapferer Krieger weint nicht!«, fuhr sie ihn an.
Er schluckte, kämpfte mit den Tränen.
»Weine nicht!«, befahl sie. »Weine nicht! Du sollst doch lächeln!«
Seine Lippen erzitterten. Dennoch beherrschte er sie ausreichend, um seine Mundwinkel sacht nach oben zu dem Anflug eines Lächelns zu verziehen. Da erst war sie zufrieden, schüttelte und schalt ihn nicht länger, sondern presste ihn wieder an sich, damit er sich in ihren weichen, warmen Armen ausruhen und darin Trost finden konnte.
Brügge, A.D. 864
Die weichen Schwingen des Todesengels waren nicht kalt, wie viele Menschen sagten. Sie senkten sich nicht schwer auf Johannas Schultern, sondern schienen ihren Leib nur kitzelnd zu streifen. Sie kannten keine Wucht, keine Schmerzen – jedoch, und dies war das Einzige, was sie bedauerte, auch kein Maß für Geschwindigkeit. Sie hatte gedacht, dass der Tod nicht auf sich warten ließe. Doch seine leisen Schritte fielen unendlich zögerlich aus, sodass sie Zeit hatte, über ihn nachzudenken.
Stehend hatte sie von dem Gift genommen und war zunächst auch entschlossen gewesen, in aufrechter Haltung darauf zu warten, bis die Ohnmacht sie überkommen und die Knie ihr wegsacken würden. Sie wollte das Urteil, das sie über sich selbst gefällt hatte, nicht geduckt entgegennehmen. Doch als nichts anderes geschah, als dass dieses Kitzeln über ihren Rücken lief, ihre Haut trocken und heiß wurde, ihr Herz holprig zu pochen begann, hockte sie sich schließlich in die Ecke und barg ihren Kopf in den Händen.
Die Bilder, die vor ihr aufstiegen, waren licht und klar. Ob es die schönsten Erinnerungen waren, die sie aus dem Gedächtnis hervorholte, wusste sie nicht – aber es waren unbeschwerte.
Balduin war da. Balduin als Kind. Sein Lächeln, das sie einst getröstet hatte.
Sie hörte sich selbst lachen. Das erstaunte sie, denn sie konnte sich nicht erinnern, so gelacht zu haben, so freimütig, so ungezwungen. Aber doch … ja … jetzt fiel ihr der Anlass wieder ein. Es war an einem jener Tage gewesen – Balduin war noch einSäugling gewesen –, da Alpais sie aufsuchte, um ebenso gütig wie verhalten zu fragen, ob alles beim Rechten stehe, das Kind gedeihe, sie genug Milch habe. Nun, an Milch hatte es ihr nie gemangelt.
Und dann wollte Alpais plötzlich wissen, ob Balduin immer gleich viel trinke, ob er nicht vielleicht an den Fastentagen wie Mittwoch und Freitag die Brust verweigere. Sie habe gehört, dass der heilige Nikolaus es in seiner Kindheit so getan habe. Gott hatte solcherart wohl der Welt zeigen wollen, dass sie es mit einem außergewöhnlich begnadeten Kind zu tun hätte.
Johanna hatte sie belustigt angeblickt. Wie sonderlich Alpais doch manchmal war! Doch sie hatte sich beherrschen können, um ernsthaft zu antworten: »Nein, Balduin ist an jedem Tag gleich hungrig.«
»Wie schade«, meinte Alpais, doch es war ihr, wie immer, nicht recht anzusehen, ob sie das nur der Ordnung halber sagte oder sie sich tatsächlich grämte. »Dann wird er wohl dereinst nicht zum Stand der Gottesmänner zählen, sondern ein Krieger werden.«
Nachdem sie Johanna verlassen hatte, hatte diese über die sonderbare Anwandlung gelacht. Erst später, viel später, als jene leise, friedliche Zeit vorübergegangen war, begannen die Sorgen zu wachsen, ob das, was Alpais – den Plan des Grafen vorwegnehmend
–
entschieden hatte, dem kleinen Balduin wirklich zum Segen gereichen würde.
Johanna hatte ihn bestärkt, als er ein jammerndes, weinendes Kind gewesen war, ebenso wie später als Jugendlichen, da er es satt hatte, als verweichlicht zu gelten und mit zunehmender Verbissenheit und Ehrgeiz daran ging, allen zu beweisen, wozu er taugte
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