Das Geständnis der Amme
Teilreiche wird es dann geben? Unselig erscheint mir die Sitte, die wir vom Geschlecht der Merowinger übernommen haben, wonach alle Söhne gleichberechtigte Erben sind. Nichts bringt der Welt so viel Ungemach wie der Streit von Brüdern. So war es bei Kain und Abel. So ist es beim Geschlecht der Karolinger, vor allem, wenn jenseits der Grenze die Feinde wie Wölfe lauern.«
»Laon ist und bleibt durch seine Mauer geschützt. Und sagt Ihr nicht immer, Gottes Handeln folge einem strikten Plan – auch wenn er dem Menschen nicht immer einsichtig ist?«
»Dass du so spöttisch sprichst, zeigt mir, dass du an etwas anderes glaubst. Du hast dich immer noch nicht mit dem Allmächtigen ausgesöhnt, nicht wahr? Haderst noch mit ihm wegen Hildegunds Tod. Du solltest dir ein neues Weib nehmen und …«
»Gott bewahre!«, fuhr Audacer ihn an. »Ich fand bis jetzt keine, die ist … wie sie.«
Der Graf schien widersprechen zu wollen, unterließ es dann aber. Er zuckte resigniert die Schultern. »So trägt denn jeder seine Last. Du deine Trauer, ich meine Sorgen. Vielleicht sind wir einfach zu alt, um jemals wieder die Leichtigkeit der Jugend zu schmecken.«
Er klang nun wehmütig, und er blickte auch nicht mehr in Audacers Gesicht, sondern an ihm vorbei, als könnte er in der unergründlichen Weite des Himmels Beschwichtigung finden. Just in diesem Augenblick geschah es, dass sein Blick auf Balduin fiel. Da ihn die Sonne blendete, erkannte er nicht dessen Wunden auf dem Rücken, sondern lächelte ihm freudig zu.
»Balduin!«, rief er. »Solltest du nicht mit Arbogast üben, das Schwert zu führen?«
Bis jetzt hatte Balduin es geschafft, sich aufrecht zu halten und tapfer gegen die Schmerzen anzukämpfen. Doch als die freundliche Stimme des Grafen ihn traf, hielt er dem Kummer und der Demütigung nicht mehr stand. Wie ein Häuflein Elend sackte er in sich zusammen, und dann brach alles aus ihm heraus. Er weinte nicht, aber seine Stimme wurde von einem lauten Schluchzen geschüttelt. Er berichtete, welche Furcht er vor dem Gewitter gehabt hatte, wie des Grafen Neffen ihn verspottet und wie Arbogast ihn bestraft hatte, zunächst für seine Feigheit und dann für sein Unvermögen, das Schwert zu halten.
»Ich will nicht mehr!«, beendete er zittrig seine abgehackte Rede. »Ich will nicht mehr kämpfen!«
Der Graf beugte sich zu ihm herab. Seine Stimme war gütig wie zuvor, aber seine Stirn runzelte sich.
»Mein Sohn«, sagte er und ließ keinen Zweifel daran, dass er Balduin tatsächlich als solchen betrachtete. »Mein Sohn: Am wichtigsten ist nicht, das Kämpfen zu lernen, sondern vielmehr, Prüfungen standzuhalten. Die Pflichten, die der Herr im Himmel einem aufträgt, kann man nicht wählen – und doch muss man alles Trachten darein legen, sie zu erfüllen.«
Er seufzte, als fiele es ihm selbst manchmal schwer, sich daran zu halten. Doch umso entschlossener fuhr er fort: »Die Schwäche, ein Schwert fallen zu lassen, soll dir erlaubt sein. Nicht aber die Schwäche, es nicht wieder aufzuheben. Also: Erhebe dich, geh zurück zu deinen Gefährten und übe weiter!«
Bei den letzten Worten strich er Balduin über das Gesicht. Zuerst war es ein liebevolles Tätscheln, dann kniff er ihm in die Wangen. Es war aufmunternd gedacht – doch Balduin fühlte sich erneut geschlagen.
Hilfesuchend sah er am Grafen vorbei zu Audacer. Sein Gesicht lag im Schatten und flößte ihm Furcht ein, doch irgendwie verströmte dieser Mann, der zugleich Vater und Fremder war, ein Ausmaß an Sturheit, das dem Grafen zu fehlen schien – eine Willensstärke, sich über Gebote hinwegzusetzen, auch wenn die ganze übrige Welt daran festhielt.
Graf Roberts Blick war seinem gefolgt.
»Hast du deinem Sohn nicht auch etwas zu sagen?«
»Ihr habt entschieden, was aus ihm werden soll. Und mir war’s recht, dass ich es nicht tun musste.«
Er wandte sich ab.
»Ich kann nicht glauben, dass dein Herz derart verhärtet ist!«, rief der Graf. »Erkennst du nicht Hildegunds Gesicht in seinem?«
Da drehte sich Audacer wieder um und trat auf sie zu. Balduin war, als würde die Erde unter den schweren Schritten seines fremden Vaters erzittern. Er senkte den Kopf, bereute es bitter, ausgerechnet bei ihm Hilfe gesucht zu haben, und erbebte, als Audacer zu sprechen begann. Seine Stimme klang nicht grollend und dunkel wie all seine bisherigen Worte, sondern war von Schadenfreude durchdrungen.
»Das Leben ist nicht einfach«, erklärte Audacer. »Das Leben ist
Weitere Kostenlose Bücher