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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Krohn
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ihm die Einsamkeit im Wald zusetzte und ihm vor Augen führte, dass er nicht als Späher taugte?
    Er konnte sich nicht erinnern, in den letzten Wochen jemals allein gewesen zu sein. Seit sie im Mai zum Kriegszug gerufen worden waren, hatte er stets an Gerolds Seite geschlafen, dem einzigen Neffen des Grafen von Laon, der Arbogasts Ausbildung bis zum Ende durchgestanden hatte. Den einen, Giso, hatte eine gebrochene Lanze so unglücklich am Auge getroffen, dass er zuerst dieses und dann – als der Wundbrand kam – das Leben verlor. Der andere wiederum, Gerbert, hatte im Alter von zehn Jahren zu wachsen aufgehört und war klein wie ein Junge geblieben, was irgendwann zu der Entscheidung geführt hatte, dass er in einem Kloster besser aufgehoben sei als kämpfend auf dem Pferderücken. Seitdem herrschte zwischen Balduin und Gerold weder Missgunst noch Spott. Dass der eine als dessen nächster Verwandter den Grafen dereinst beerben sollte, obwohl dieser den anderen, dessen Pate er war, viel mehr und wie einen Sohn liebte, stand zwar zwischen ihnen, aber sie zollten einander Respekt und vertrauten dem jeweils anderen ihr Leben an.
    Übereinkommend hatten sie am Tag zuvor auch beschlossen,dass Gerold bei den anderen Männern blieb, um notfalls das Lager zu verteidigen, wohingegen Balduin, der am schnellsten von ihnen allen ritt, ausrücken sollte, um die Ursache der schrecklichen Laute zu ergründen, die plötzlich ihre Ruhe gestört hatten. Es war das Rasseln von Köchern gewesen, und jedes Kind im westlichen und nördlichen Frankenreich wusste, dass sich damit ein Angriff der Normannen ankündigte. Stunden zuvor hatten sie noch gespottet, ob es die Männer aus dem Norden womöglich mit der Angst zu tun bekommen hätten. Seit vier Wochen waren sie mittlerweile auf Kriegszug, dabei aber nie einem Einzigen von ihnen begegnet. Doch das selbstherrliche Lachen, das nur einer auf den Lippen tragen konnte, der sich zwar schon als Krieger fühlte, dessen Bewährung freilich noch ausstand, war ihnen rasch vergangen.
    Sie alle wussten – neben Balduin und Gerold waren es etwa zwei Dutzend weitere Männer –, dass nun der Ernstfall eintrat.
    Balduin zog an den Zügeln, brachte das Pferd zum Innehalten. Unruhig tänzelte es auf einem Fleck und hinterließ dunkle Spuren auf der Erde. Ja, er konnte vorzüglich reiten – aber sich in einem fremden Gebiet zu orientieren, hatte er nie gelernt. Er wusste, dass nicht weit von ihm die Küste sein musste, ein gefährlicher Ort, denn vom Meer her kam der Feind mit seinen Schiffen. Doch er konnte die Richtung ebenso wenig einschätzen wie jene, in der sich das Lager befand.
    Lieber Gott, lass mich sie finden, lass mich nicht zu spät kommen!, sandte er erstmals ein Stoßgebet gen Himmel.
    Er war dem Rasseln der Köcher gefolgt und hatte tatsächlich eine Horde Normannen entdeckt – oder zumindest ihre Schatten im Schutz der Bäume erkennen können. Doch was nutzten seine Erkundungen, wenn er nicht zum Lager zurückfand und obendrein nicht einmal sicher sein konnte, dass er unentdeckt geblieben war? Seit Stunden fühlte er sich von Stimmen, Schritten, Hufgetrampel umkreist, ohne dass diese freilich näher kamen.
    Bis jetzt zumindest.
    Während der Schweiß ihm von der Stirn tropfte, das Herz ihmbis zum Halse pochte und er vergeblich das Pferd zu beruhigen suchte, das heftig seine Nüstern blähte, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Noch hoffte er, dass es ein wildes Tier wäre, das eilig vor ihm floh. Doch als er das Pferd wendete, ihm beruhigend auf den Hals klopfte, um es zu beschwichtigen, und schließlich weiterreiten wollte, blickte er direkt auf einen Bogen, in dem ein Pfeil gespannt war – zum Abschuss bereit und auf ihn gerichtet. Und als er das Pferd, das panisch wieherte, erneut wendete, gewahrte er, dass ihm keine Fluchtmöglichkeit blieb. Er war längst eingekreist.
     
    Der Krieg war leise. Dies war die erstaunlichste Erkenntnis von allen.
    In all den Jahren, in denen er sich auf eine Begegnung mit den Normannen vorbereitet hatte, war er stets davon überzeugt gewesen, dass Kampf und Lebensgefahr mit unglaublichem Lärm einhergingen, von Waffen, die aufeinanderschlugen, von Kriegsgebrüll, von Todesschreien. Nie hatte er gedacht, dass er dem Feind in dieser Grabesstille gegenübertreten müsste – einer Stille, die ihn betäubte. Als er auf die Pfeile und in die ausdruckslosen Gesichter jener Männer starrte, die diese auf ihn richteten, fühlte er keine Angst,

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