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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Krohn
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weder vor dem Tod noch vor dem Schmerz, sondern nur Enttäuschung: Das war alles? Dafür hatte er Arbogasts harte Ausbildung über sich ergehen lassen, hatte bei Kälte, Hitze und Hunger kämpfen gelernt? Dass er nun ganz alleine einer übermacht gegenüberstand, die jeden Kampf aussichtslos machte? All die Qualen für einen ruhmlosen Tod?
    Er saß wie erstarrt auf dem Pferd, fühlte sich nicht nur um den Krieg betrogen, sondern auch um das Grauen, wie er es so oft in den Gesichtern von Flüchtlingen hatte ablesen können – egal, ob sie aus Rouen kamen, das mittlerweile schon zum fünften Mal eingenommen worden war, aus Paris, das im Jahr des Herrn 856 wiederholt von den Normannen geplündert wurde, oder aus einer der vielen Städte, die die Feinde fortan als Stützpunkte gebrauchten –was sie im übrigen noch gefährlicher machte. In diesem Jahr warÉvreux zerstört worden, die Abtei von Fontenelle brannte bis auf ihre Grundfesten nieder und ebenso Bayeux, dessen Bischof Blatfrid später erdrosselt aufgefunden wurde. Aus Jeufosse kommend hatten die Normannen schließlich Ludwig, den Abt von Saint-Denis und Enkel Karls des Großen, sowie dessen Halbbruder Gauzlin entführt – eine Untat, die die Großen des Landes nicht ungesühnt lassen wollten. Sie hatten zu jenem Feldzug aufgerufen, dem sich auch Balduin angeschlossen hatte – um zu sterben.
    Das erwartete er zumindest. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass einer dieser Pfeile surrend durch die Luft jagen und ihn treffen würde. Wenn er Glück hatte, direkt in die Kehle, denn dann würde er rasch verbluten und nicht quälend langsam sterben. Doch so sehr sich sein Körper auch anspannte, nichts dergleichen geschah.
    Zwar ließ keiner der Männer, die ihn umstellt hatten, die Waffen sinken, aber es zeigte auch niemand Anstalten, ihn anzugreifen. Einer von ihnen – der Einzige, der keinen Bogen hielt – trat schließlich hervor und machte mit der rechten Hand ein Zeichen.
    Das ist es!, schoss es Balduin durch den Kopf. Das ist das Signal, mich zu töten!
    Erst nach einer Weile, als wieder nichts geschah – er hörte, wie seine Zähne knirschten, so fest rieb er sie aufeinander –, erkannte er, dass das Zeichen nicht den Männern, sondern ihm gegolten hatte. Der Fremde wiederholte es, mit mürrischem, jedoch nicht hasserfülltem Blick. überhaupt sah er nicht wie einer der wilden, zähnefletschenden Wölfe aus, mit denen die Normannen oft verglichen wurden.
    Vom Pferd, formten sich Balduins Gedanken, ich soll vom Pferd steigen …
    Gleichwohl er sich immer noch wie betäubt fühlte und die kalte Hand der Furcht vergeblich nach seinem Herz fasste, bäumte sich alles in ihm gegen diesen Befehl auf. Mochte er auch ruhmlos sterben, er würde sich weder dem Wunsch eines Feindes beugen noch kampflos aufgeben.
    Er gab dem Pferd die Sporen, und weil es sich in die Enge getrieben fühlte, stieg es wiehernd auf. Er hatte keine Schwierigkeiten, sich im Sattel zu halten, das hatte er oft geübt; er löste sogar eine Hand vom Zügel, um nach seinem Schwert zu greifen. Noch während er das Schwert schwang, spürte er plötzlich einen brennenden Schmerz in seiner Schulter. Sein Arm wurde unbeweglich, das Schwert entglitt ihm und fiel auf den weichen Waldboden. Sein Pferd erschrak, stieg noch höher, und diesmal konnte er sich nicht im Sattel halten. Er spürte, wie er rutschte, wie er fiel – und dann dachte er nicht mehr daran, ob er ein tapferer Krieger war, sondern an die Menschen, die er auf dieser Welt zurücklassen musste und die um ihn trauern würden.
    An Graf Robert, der ihn liebte und der ihm gerade deswegen stets einschärfte, seine Pflicht zu tun.
    An die sanfte, freundliche, aber unnahbare Alpais, die ihren Kummer um die Kinderlosigkeit mit Frömmigkeit betäubte.
    An Audacer schließlich, seinen leiblichen Vater, der ihm nicht verzeihen wollte, dass Balduins Geburt sein Weib das Leben gekostet hatte – und vielleicht noch viel weniger, dass er jung und unerfahren genug war, sich dreist vom Leben Glück und Ruhm zu erhoffen.
    Und an Johanna.
    Ehe er aufprallte und sich die Welt um ihn herum verdunkelte, dachte er an Johanna und an ihre Worte, wonach er allein es gewesen war, der sie nach dem Grauen des Normannenüberfalls hatte weiterleben lassen.
    »Du musst lächeln«, hörte er sie sagen. »Du musst lächeln.«
    Er versuchte, ihrem Wunsch zu entsprechen, doch ebenso wie die restlichen Glieder gehorchten ihm auch die Mundwinkel nicht mehr. Es tut mir so

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