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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Krohn
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nicht schön, das solltest du begreifen. Denn verloren ist, wer sich nicht daran gewöhnt. Maß dir also nicht an zu glauben, es könnte dir besser ergehen als mir und du bliebest von der Bitterkeit und dem Elend der hiesigen Welt verschont! Maß es dir nur ja nicht an!«
    Johanna kniete auf der feuchten Erde, die zunehmend klammer wurde, als die Sonne sich senkte, aber sie kümmerte sich weder um die Gänsehaut, die langsam ihre Arme und Beine überzog, noch um den Schmerz, der sich in ihren Knien festbiss. Nach den heißen Sommermonaten war es für sie angenehm, zu frösteln anstatt zu schwitzen, und auch die vielen Pflanzen und Kräuter, die sie inbrünstig und ohne Unterlass pflegte, schienen dem gestrigen Gewitter dankbar zu sein und ließen ihre Blätter und Blüten nicht lasch hängen wie in den letzten Wochen. Mochten die Sonnenstrahlen auch dann und wann noch pieksen – ihre verdörrende Kraft hatten sie für dieses Jahr verloren. Herbst lag in der Luft, und Johanna erwartete diese Jahreszeit mit Freude.
    Gewiss, die anderen Frauen klagten schon jetzt über den Winter, der damit unausweichlich vor der Tür stand und ob seiner gnadenlosen Kälte die unliebsamste Zeit des Jahres war. Doch Johanna, die weder im kalten Wasser Wäsche zu waschen hatte noch Holz zu sammeln oder Torf zu stechen, mochte eine vom langsamen Verblühen und Sterben bezähmte Natur lieber als dieses aufdringliche, in ihren Augen stets übertriebene Aufbrechen des Lebendigen im Frühling. Ihr Gemüt glich dem Herbst, mit Schwermut und Abschiednehmen erfüllt, wenn das Frische und Unschuldige eines neuen Jahres lange vorbei war.
    Sie veränderte ein wenig ihre Position, ohne endgültig aufzustehen. Die anderen Frauen waren oft verwundert darüber, dass sie sich stundenlang mit ihren Gewächsen beschäftigen konnte, sie hegte, sie goss, sie beschnitt, sie erntete. Für sie selbst war es anfangs ebenso erstaunlich gewesen, dass sie etwas mit ähnlicher Leidenschaft tun konnte wie für Balduin zu sorgen. Aber vielleicht hatte sich die Bereitschaft, sich besitzergreifend und selbstvergessen um etwas zu kümmern, lediglich ein anderes Ziel gesucht, als Balduin größer wurde und ihr mehr und mehr entglitt. Klaffend leere Stunden hatten sich in den bislang ausgefüllten Tagesablauf gerissen, sobald Balduin hatte laufen und sprechen können. Einst war ihre Milch alles gewesen, was er brauchte – und nun gab es so vieles, was sie ihm nicht geben konnte.
    Traurigkeit und Leere waren in ihr gewachsen – bis zu dem Tag, da sie die Heilkunst erlernte und das Aufziehen von vielerlei Kräutern und Gewächsen, die dafür vonnöten waren. Anfangs hatte sie sich noch gesagt, sie tue das alles zu Balduins Wohl, wolle gegen etwaige Krankheiten und Verletzungen des Jungen gewappnet sein – Husten und Grippe, Geschwülste, Bauchschmerzen und Zahnleiden –, doch zunehmend fand sie Gefallen an diesen stillen, konzentrierten Stunden. Sie brachte sie im Garten zu, oft auch in der kleinen Kammer, wo sie ihre Arzneien herstellte, oder aber am Krankenbett von Begga. Die Frau war einst eine Meisterin auf diesem Gebiet gewesen, wurde nun aber von ihrer Gicht zum Liegen gezwungen. Nun gab sie ihr Wissen an Johanna weiter, ehe sie sterben würde.
    Johanna vertrieb die lästigen Mücken, die sie umsurrten. Nicht mehr lange, und sie würde von Begga nichts mehr zu lernen haben.
    Eberraute gegen Gicht.
    Fenchel bei Verstopfung und Husten.
    Kerbel, um Blutungen zu stillen.
    Wermut, um das Fieber zu senken.
    Sellerie, um Harn zu treiben.
    Myrrhe, Aloe und Weihrauch gegen Kopfschmerzen.
    Sie hatte den kleinen, schmalen Schatten, der auf sie gefallen war, erst nicht bemerkt, doch als sie nun ein leises Wimmern vernahm, fuhr sie herum und vergaß schlagartig ihre Kräuter und Pflanzen. Sie sprang auf.
    »Um Gottes willen, was ist …«
    Ihr Herz tat einen schmerzhaften Sprung. Balduins Kopf war rot angelaufen, als würde er im Fieber glühen, sein Rücken und seine Schultern waren von blutigen Striemen übersät, und aus seinen zusammengekniffenen Augen strömten so viele Tränen gleichzeitig, dass sich auf den Wangen nicht nur einzelne Tropfen ihre Bahn brachen, sondern ein breiter, salziger Fluss.
    Sie brauchte nicht zu fragen, was geschehen war, sie konnte es sich denken. Johanna kniete sich schweigend zu ihm und umarmte ihn. Zuerst spannte sich der Leib des Knaben an, dann ließ er sich fallen und wurde von einem Schluchzen erfüllt, das ihr durch Mark und Bein ging. An

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