Das Geständnis der Amme
– den Neffen des Grafen ebenso wie Arbogast, natürlich auch Robert von Laon und seinem fernen Vater Audacer. Doch nie war ihre Liebe zu Balduin rein gewesen, sondern immer von Kämpfen beseelt – dem Kampf, sich und ihm eine Zukunft zu sichern, dem Kampf, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Erst jetzt, in diesem Augenblick, da sie den Tod nicht länger bekriegte, sondern ihn willkommen hieß, da es keine Zukunft mehr gab und in der Vergangenheit nur mehr die lichten Momente zählten, da schwanden auch die Lasten, Sorgen und Wunden vergangener Tage.
Leicht, es war so leicht, sie aufzugeben. Und sie selbst … sie fühlte sich auch immer leichter, so, als säße sie nicht auf dem Boden, sondern schwebte ein Stückchen darüber, ja, als könnte sie fliegen. Sie war bereit, sich diesem Gefühl ganz zu überlassen, wollte nicht bedenken, dass es sie betrog, weil das Gift Halluzinationen förderte – als eilige Schritte ihren Frieden störten.
Mühsam hob sie den Kopf.
»Lieber Gott … Johanna!«
Ob man ihrem Gesicht den Todeskampf ansah? Ob es vom Gift bleicher war, die Lippen ausgezehrter?
Balduin zumindest schien entsetzt. Er war es, der sie gesucht und hier gefunden hatte und der nun hektisch auf sie zutrat und sich zu ihr beugte.
»Was … was tust du denn hier, Johanna?«, fragte er, blickte von ihr zu jenen Leder säckchen, aus deren Inhalt sie den Trank gebraut hatte, und wieder zurück zu ihr.
Gewiss hatte er sie um Judiths willen gesucht, dachte Johanna. Nun, sie konnte Judith nicht mehr helfen. Nicht mehr mit ihrer Anwesenheit zumindest … nur mit ihrem Sterben.
»Ich musste es tun«, flüsterte sie. »Ich musste es tun.«
»Lieber Gott!«, stieß er erneut aus. »Was redest du da?«
»Ich sterbe«, stellte Johanna ruhig fest.
Sie hörte, wie ihm der Atem stockte.
»Warum?«, stammelte er. »Warum nur?«
Zweiter Teil
Der Krieger
A.D. 858-861
»Ist es nötig, dass so viele Menschen zugrunde gehen?«
Paulus Diaconus V.
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V. Kapitel
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Ich hätte mich nicht von ihnen trennen dürfen, dachte Balduin, ich hätte nicht allein reiten sollen …
Die Worte kreisten in seinem Kopf, ohne dass er sie wirklich durchdachte; er hielt sie einzig fest, um jener dunklen Welt, in die er geraten war, den letzten Rest an Geist und Vernunft entgegenzusetzen. Beides schien über die langen Stunden, da er nun schon im Dickicht umherirrte, zu schwinden. Schon fiel es ihm schwer, zwischen dem zu unterscheiden, was wirklich war, und dem, was er sich nur einbildete. Die schweren äste, unter denen er sich duckte – waren sie nicht die Hände der Feinde, die nach ihm griffen? Das Rascheln im Gebüsch, waren es ihre Schritte? Geschah das, was er zu erleben glaubte, wirklich, oder war er vielleicht nur in einem Traum gefangen, der ihm jene Ereignisse vorspielte, von denen Johanna ihm so oft berichtet hatte?
Als Kind hatte er sich gegruselt, wenn sie ihm von ihrer tagelangen Flucht durch den Wald berichtete und wie sie sich damals gefragt hatte, ob ihr die Normannen wohl auf den Fersen waren. Doch erst jetzt, da ihm das Gleiche geschah, konnte er ihre ängste nachfühlen, jene Panik, die nicht einfach nur an den Nerven nagt, sondern sich wie ein dunkler Abgrund auf tut.
Genau genommen hatte Johanna noch Schlimmeres erlebt. Immerhin trug er in einem Lederbeutel ausreichend Nahrung mit sich – gepökeltes Schweinefleisch und Schinken, dazu einen Schlauch Wein und zwei Fladen, die sich er und seine Männer gestern noch aus Mehl und Wasser zusammengerührt und dann auf heißen Steinen gebacken hatten. Gestern, als die Welt nochin Ordnung war. Als er nicht den Fehler begangen hatte, sich von den anderen zu trennen.
Und sein Pferd. Er hatte noch sein Pferd. Seine Füße würden nicht aufplatzen und bluten wie einst die von Johanna, und die Geräusche, die sein Tier verursachte – der Aufprall der Hufe auf dem holprigen, mit Wurzeln übersäten Weg, der unruhige Atem, das leise Wiehern –, vergewisserten ihn, dass er sich tatsächlich in der hiesigen Welt befand, nicht in den Fängen eines Traumes. Zu deutlich spürte er auch den verschwitzten, warmen Leib des Tieres – und seinen eigenen.
Ich hätte mich nicht von ihnen trennen dürfen, ging es ihm wieder durch den Kopf, und erstmals fragte er sich, warum er dies bedauerte. Weil er nicht da sein würde, sollte das Lager überfallen werden, und er sich nicht als tapferer Krieger erweisen konnte, der Seite an Seite mit seinen Gefährten kämpfte? Oder weil
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