Das Geständnis der Amme
jenem Tag, da Audacer sich von ihm losgesprochen hatte, hatte sie das Kind mit aller mütterlichen Inbrunst zu lieben begonnen. Und bis heute ertrug sie es nur schwer, es weinen zu sehen.
»Ich will krank sein!«, stammelte Balduin schluchzend. »Ich will krank sein!«
Johanna schob ihn ein wenig zurück, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Sie verstand nicht, was er da sagte.
»Wie kommst du nur darauf? Jeden Tag bete ich zu Gott, dem Herrn, dass du gesund bleiben mögest!«
»Ich will krank sein!«, wiederholte er. »Ich will im Bett liegen. Ich will, dass du mich in deinen Armen wiegst, und ich will, dass du kommst und mir etwas zu trinken bringst.«
Langsam ging ihr auf, was er meinte. Nicht lange war es her, da hatte sie ein unangenehmes Magendrücken und Blähungen, unter denen er schon als Kleinkind häufig gelitten hatte, auf bewährte Weise kuriert: indem sie ihm den Leib massierte und ihm den Saft gekochter Äpfel mit Honig und Pfeffer einflößte; manchmal hatte sie ihm auch die Milch einer Mutterziege gegeben, in der ein Fenchelsamen gekocht worden war. Die Stunden, in denen sie ihn pflegte, waren ihr immer besonders kostbar gewesen. Erst jetzt erkannte sie, dass sie auch ihm nicht minder teuer waren.
»Aber Balduin«, murmelte sie, »du bist nicht krank!«
»Doch!«, sagte er. »Ich bin ein Feigling, das sagen alle, und ich mag nicht kämpfen. Ich mag … ich mag gar nichts mehr!«
Johanna erschrak. Es war das eine, wenn Mütter bedauerten, dass die Söhne ihnen entwuchsen und ihre gerade noch verletzlichen Kinderseelen zu den harten, verschlossenen eines Kriegers zurechtgehauen wurden, aber etwas ganz anderes, wenn sich ein Kind selbst dem vorgeschriebenen Lauf der Dinge widersetzte.
»Sag das nicht!«, erwiderte sie ungewohnt scharf.
Balduins Tränen versiegten. »Ich mag nicht mehr!«, stammelte er wieder, und dann deutete er auf die Kordel, die sie um dieTaille trug und an der mit Ketten und Spangen viele kleine Ledersäckchen festgehalten wurden, allesamt gefüllt mit Heilmitteln. »Kannst du mich nicht pflegen?«, bettelte er.
Johanna versuchte, ihre tiefe Sorge zu verbergen. Jeder gesunde Mensch, das wusste sie von Begga, sollte etwas von den vier Temperamenten in gleichen Teilen besitzen. War jedoch eines übermächtig, ob nun Zorn oder Schwermut, dann mochten das rote Blut, die schwarze und die gelbe Galle sowie der weiße Schleim in Ungleichgewicht geraten sein. War es möglich, dass Balduin zu viel von der Melancholie erhalten hatte? Und wie würde der Graf reagieren, wenn sich das nicht legte? Seit langem hegte sie die Furcht, dass er ihn – so er denn nicht zum Krieger taugte – in ein Kloster schicken könnte.
»Du bist jetzt müde und erschöpft«, erklärte sie entschlossen, »und das ist auch gut, weil du nur durch Anstrengung ein starker Mann wirst. Aber krank bist du nicht.«
»Ich will nicht stark werden!«, entgegnete Balduin störrisch.
Johanna packte ihn heftig, schüttelte ihn ein klein wenig.
»Aber du musst stark werden, weißt du das denn nicht?«, rief sie eindringlich. »Ich habe dir doch erzählt … von den bösen Normannen, den finstern Heiden, die aus dem Norden kommen und alle guten Christen hier niederschlagen und töten. Sie kommen, um Häuser zu verbrennen, ganze Dörfer. Möchtest du etwa, dass sie auch zu uns kommen … dass sie mich töten?«
Ihre Stimme überschlug sich. Balduin erstarrte vor Furcht.
»Sie sind in den letzten Jahren immer wieder in unser Land eingedrungen«, fuhr Johanna fort, »sie haben Quentovic erobert und Nantes, und Rouen ist immer wieder aufs Neue zerstört worden. Bis nach Paris haben sie es geschafft, und überall auf ihrem Weg haben sie Elend und Leid zurückgelassen. Sie erwürgen ihre Gefangenen oder hängen sie an den Bäumen auf, bis ihre Gesichter blau anlaufen und ihre Augäpfel hervortreten. Willst du, dass sie mich aufhängen? Willst du das?«
Balduin erschauderte. Sämtliche Röte war aus seinem Gesicht gewichen. Er war nun so bleich, als wäre er wirklich krank.
»Nein, das willst du nicht!«, beschwor Johanna ihn. »Du willst groß und stark werden, um die Normannen zu schlagen! Sie sind gefährlich, gemein und verderbt, und wir werden alle keinen Frieden finden, wenn tapfere Männer sie nicht vom Erdboden tilgen, nicht wahr?«
Sie heischte nach seiner Zustimmung, doch Balduin stand wie erstarrt. Seine Tränen trockneten, kein Laut kam aus seinem Mund. »Nicht wahr?«, rief sie wieder und begann ihn zu
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