Das Geständnis der Amme
Gestank schlug ihr entgegen, nach Schweiß und anderen Körpersäften, nach altem, abgestandenem Essen und nach Wein. Fliegen surrten in dem Raum, hockten nicht nur auf halbleeren Schüsseln, Tellern und Kelchen, sondern auch auf nicht ge-machten Betten. Der Kamin war kalt, offenbar schon seit Tagennicht mehr beheizt. Und niemand hatte daran gedacht, den Raum nach den letzten Gästen zu reinigen. Eigentlich war es eine der wesentlichen Pflichten des
Mansionarius,
darüber zu wachen.
Es war zu viel.
Wütend fuhr Judith herum, rannte viel eiligeren Schrittes, als sie üblicherweise lief, den Weg zurück, den sie gekommen war, bereit, diesen verfluchten, erbärmlichen gemeinen … ja was er auch immer sein mochte, diesen Mann also zur Rede zu stellen. Gewiss handelte er nicht aus freien Stücken, sondern auf Befehl ihres Vaters, und doch schien er derjenige, der nun am besten dazu taugte, ihre Vorwürfe zu ertragen. So viele erboste Worte lagen ihr auf den Lippen, dass sie nicht auf die Gaffer achtete, die Zeu-gen ihres Zorns wurden.
Der
Mansionarius
war nirgends zu finden, doch sie konnte ahnen, wo er sich versteckte – und dankte Gott, dass sie hier keine Fremde war, sondern sich an einem Ort befand, an dem sie sich halbwegs zu orientieren wusste.
Im Lagerraum, gewiss war er im Lagerraum.
Dort wurden Matratzen und federgefüllte Kopfkissen aufbewahrt, Rollen und Decken, Tierfelle, Bettlinnen und Bankpolster, desgleichen das Geschirr.
»Wo seid Ihr?«, rief Judith herrisch, als sie den Raum erreicht hatte. »Wo versteckt Ihr Euch?«
Sie stieß auf Leere. Kaum, dass sie ihrer ansichtig wurden, waren sämtliche Bedienstete fortgestoben. Auch Madalgis hatte sie nicht begleitet.
Judith schluckte schwer, fühlte sich nicht nur allein in diesem Raum, sondern unendlich verlassen, nicht nur vom Vater verstoßen, sondern von der ganzen Welt. Sie hätte damit leben können, dass er sie mit Absicht demütigte und sich die Versöhnung solcherart teuer bezahlen ließ, vor allem wenn dadurch Balduins Ehre, sein Ansehen, sein Lehen wiedergewonnen waren. Aber das Schlimmste war, dass Balduin es ihr nicht danken würde, dass sein Widerwille, hier zu sein, noch größer war als ihrer.
Zum ersten Mal, seit sie Senlis entflohen war, fragte sie sich,ob sie das damalige Gefängnis mit einem noch engeren Kerer getauscht hatte, nicht aus Stein errichtet, sondern aus Balduins Ablehnung, den Beleidigungen des Vaters – und aus dem eigenen Ärger über ihren Gatten, der trotz seiner lebensbedrohlichen Verwundung noch immer in ihr wucherte. Hatte er nicht mindestens so viel falsch gemacht wie sie? Und warum musste sie das alles nun ohne ihn ertragen?
Sie drehte sich um, nicht länger mit dem Willen, den
Mansio-narius
zur Rede zu stellen, sondern um Balduin zu finden und mit ihm zu sprechen.
Schon beim ersten Schritt hielt sie inne. Eine Gestalt verstellte das Tor, fremd, so fremd – und zugleich vertraut.
»Was machst du hier?«, entfuhr es Judith. Ihr Herz schien sich zu verknoten. Mit einem Mal wurde ihr eiskalt.
Obwohl niemand mit ihm zu reden bereit war, entnahm Balduin dem Tuscheln im Stall vieles, was bisher hier in Verberie geschehen war. Die Synode, zu der der König und die Bischöfe gerufen hatten, diente bei weitem nicht nur dem Zwecke, die Eheangele-genheiten der ungehorsamen Tochter zu klären.
Zuvor war die Sache eines gewissen Rotbert ausgetragen worden, eines Bischofs, der sich im Besitz der Abtei des heiligen Carilephus wähnte und behauptete, dass dieselbe kraft päpstlicher Zuweisung zum Eigentum seines Bistums gehöre. Der König pochte jedoch selbst auf jene Abtei – und konnte sich durchsetzen.
Außerdem hatte König Karl in feierlicher Weise den Gesandten des Mahomet, König der Sarazenen, empfangen, der viele Geschenke und Briefe überbrachte, die von Frieden und einem freundschaftlichen Bündnis handelten. Letzteres schloss König Karl, um seinem Neffen, Kaiser Ludwig, der in Italien gegen die Sarazenen kämpfen musste, eins auszuwischen. Mit allen Ehren und unter gebührendem Schutz war der Gesandte nun nach Sen-lis aufgebrochen, wo er den nächsten Winter verbringen würde, ehe er zu seinem König zurückkehrte.
Das war nicht alles, was Lärm und Aufregung bedingte. Die waffenfähigen Männer beredeten vor allem den Krieg, der vorbereitet wurde. Denn König Karl wollte eine starke Heeresmacht nach Aquitanien schicken, um dort seinen aufrührerischen Sohn Karl mit Waffengewalt zur Unterwerfung zu
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