Das Geständnis der Amme
hatte, ihr mit den Worten zuzusetzen. Darum ging sie nicht darauf ein, sondern antwortete mit einer Gegenfrage: »Welches deiner Kinder enttäuscht dich eigentlich am meisten, Mutter?«
Irmintrud kniff ihren Mund zusammen, rümpfte kaum merklich die Nase und wandte sich zu gehen.
»Ich meine«, rief Judith ihr nach, »jedes Einzelne hat dir doch Kummer und Sorgen bereitet. Karl ist verschlagen und gewalttätig, lässt sich von Pippin beeinflussen und rebelliert gegen den Vater. Lothar und Karlmann sind nicht ganz richtig im Kopf …«
»Lothar ist ein frommer Mann!«, fiel Irmintrud ihr scharf ins Wort.
»Er wurde zwangstonsuriert!«, gab Judith zurück. »Weil Ihr Angst hattet vor einem weiteren Sohn, der sich auflehnen und nach Vaters Macht greifen könnte!«
Langsam, wieder unerträglich langsam trat Irmintrud zurück zu ihr. Gleichwohl sie nicht die Absicht zu haben schien, sich mit der Tochter auszusprechen, sah sie sich nun offenbar gezwungen, länger zu verweilen und mehr Worte zu machen, als es ihrursprünglich notwendig erschienen war. »Es war das Richtige für ihn«, stellte sie schließlich fest.
Diesmal unterdrückte Judith ihr Schaudern nicht. »Ja! Eben weil er schwachsinnig ist und jegliche Revolte niemals die seine gewesen wäre, sondern immer nur die falscher Einflüsterer. Und da du so großen Wert auf Haltung und Selbstbeherrschung, ja, auf Verstellung legst, muss es dich doch bitter stimmen, einen Sohn in die Welt geworfen zu haben, der nicht genügend Geistesgaben hat, um solche Selbstbeherrschung von sich aus aufzubringen, den man wegsperren muss, damit er nicht peinlich wird. So wie ich dir offenbar auch peinlich bin, weil ich es wage, hierherzukommen.«
Ihre Stimme überschlug sich, nahm den aufgeregten Klang eines kleinen Kindes an, das so viel zu sagen hat und doch der Zunge nicht mächtig ist, um alles geordnet hervorzubringen.
Irmintruds Mund kräuselte sich in jener Weise, wie es auch Judith zu eigen war, wenn sie Spott bekunden wollte. »Was wirfst du mir eigentlich vor?«, fragte sie.
»Ich dir, Mutter? Du bist es doch, die mir zürnt! In deinem Gesicht steht es doch allzu deutlich geschrieben! Wie unmöglich es von mir war, Balduin zu heiraten, und das zur gleichen Zeit, da Ludwig sich gegen Vater erhob!«
»Deine Brüder sind Männer, es ist bedauerlich, dass sie sich gegen deinen Vater aufgelehnt haben, aber das liegt in ihrer Natur. Du hingegen bist eine Frau.«
Jedes Wort klang langsam und gesetzt. Irmintrud sprach leise, fast nuschelnd, und richtete die Spitze ihrer Worte doch treffsicher auf jene Wunde, die Judith am meisten schmerzte.
Nie war ihr aufgefallen, dass sie so viel mit der Mutter gemein hatte. Genau betrachtet hatte sie sich in den letzten Jahren nicht einmal an ihr Gesicht erinnern können, nur an diesen dunklen, irgendwie immer bedrohlich wirkenden Schatten der Kindheit, der niemals laut wurde und dessen Worte doch eine so vernichtende Macht entfalten konnten.
»Hast du immer noch nicht verwunden, dass das erste Kind,das du deinem Gatten geschenkt hast, nur eine Tochter war?«, fragte sie.
»Rede keinen Unsinn!«, gab Irmintrud zurück. »Es war Gottes Wille – und ich, ich bin keine, die sich dagegen auflehnt.«
»Du hast Recht. Dass ich eine Frau bin, war nie das, was dich störte. Ich kann mich erinnern, dass du mich sogar sehr gerne in die Pflichten einer solchen eingewiesen hast, mich darüber belehrt hast, wie man einen königlichen Hof zu führen hat. Erstaunlich nur, dass du diese Pflichten heute selbst nicht beachtet hast und es in deinem Sinne scheint, dass Balduin und ich auf dem nackten Boden schlafen. Sei’s drum. Das, was du mir nicht verzeihen konntest, war, dass ich vor der Hochzeit mit Ethelwulf drei Tage geweint habe. Welch unerträgliche Schwäche einer Königstochter! Und welch Schande, die da auf dich abgefärbt hat!«
»Weil es damals schon zeigte, wie aufmüpfig und unbeherrscht du bist!«
Judith war nicht bewusst gewesen, wie übermächtig damals ihr Schmerz gewesen war, die Enttäuschung über die Kälte der Mutter. Erst jetzt, da sie das erste Mal seit Jahren in Irmintruds verhärmtes, missgünstiges Gesicht blickte, verkrampfte es ihr Brust und Kehle. Sie wusste nicht, was sie sich damals von der Mutter erhofft hatte, gewiss nicht Protest gegen die bevorstehende Eheschließung. Jene war beschlossene Sache, es wäre ihr auch nicht in den Sinn gekommen, ungehorsam zu sein. Aber da war etwas, was sie nicht nur verletzt,
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