Das Geständnis der Amme
sondern zutiefst entsetzt hatte, das bis jetzt weiterwucherte und nur mit Hohn und Kälte und Erstarrung im Zaum zu halten war. Später, viel später hatte sie gelernt, den Menschen in die Herzen zu schauen, und es war nicht mehr befremdend, ihre Abgründe zu erforschen, sondern eine Möglichkeit, sich deren schäbiger Seiten zu bemächtigen und sie mit steifem Lächeln vorzuführen – meist zu des anderen Scham oder Ärger. Aber die Gefühlsregung der Mutter hatte sie damals unvorbereitet getroffen. »Warum?«, hatte Irmintrud damals mit einer feinen, leisen Stimme gefragt, in der fast ein Hauch von Vergnügenmitschwang, »warum glaubst du, sollte es dir besser ergehen als unsereinem? Warum maßt du dir an, über dein Geschick zu weinen?«
Judith schluchzte auf, und es war ihr gleich, dass es die andere hörte. Noch ehe sie darüber spotten konnte, schluckte Judith und fuhr sie schroff an: »Du warst immer stolz darauf, dass an dir nichts zu tadeln war, dass du meinem Vater stets gehorcht hast – ganz anders als deine Kinder. Vielleicht hat es dir sogar gefallen, dass wir uns aufgelehnt haben, so konntest du den Lorbeerkranz für Demut und Unterwerfung ganz allein für dich beanspruchen!«
»Halt deinen Mund!« Erstmals schwankte Irmintruds Beherrschung – und Judith fand inmitten ihres Schmerzes diebische Freude daran, jene Schwäche auszukosten.
»Aber all das hat dich nicht glücklich gemacht!«, rief sie. »Du bist verbittert, und wenn du mir irgendetwas nicht verzeihen kannst, dann, dass ich es womöglich nicht bin. Manchmal fühle ich mich zerstört, aber ich bin nicht … nicht so erloschen wie du! Ich habe nicht nur alles mit mir geschehen lassen, ich habe selbst über mein Leben bestimmt.«
Irmintrud schüttelte langsam den Kopf und fand darob die starre Haltung wieder. »Dass du es wagst, dich dessen auch noch zu rühmen«, sprach sie. »Papst Nikolaus bat den König, Balduin zu verzeihen und ihn in Gnaden wieder aufzunehmen, und auch mir hat er geschrieben! Dass es Balduins alleinige Schuld wäre, stand in seinem Brief, dass er sich jedoch reumütig gezeigt habe. Ha!«
»Wenn es tatsächlich nur Balduins Schuld gewesen wäre und ich daran verzweifeln würde, ja, wenn er mich zu etwas gezwungen hätte, was ich nicht wollte – oh, du würdest mich in den Arm nehmen und mich an dich pressen! Wäre ich nur unglücklich und würde es duldsam und still ertragen, so wärst du stolz auf mich. Aber als glückliche, befreite Tochter bin ich nichts weiter als ein Stachel in deiner Seele.«
Nie hatte Irmintrud sie zuvor berührt, aber als Judiths herzerweichendesSchluchzen sich am Tag vor der Hochzeit beruhigt hatte, hatte sie zuerst ihre knöchrigen Hände ausgestreckt, um ihr die Tränen von den Wangen zu wischen, und dann hatte sie Judiths Kopf an ihre Brust gepresst. Von diesem Tag an war sich Judith sicher gewesen, dass sie selbst nie wieder würde weinen können. Von jener vertraulichen Stunde mit Balduin abgesehen, hatte sie es auch nie wieder getan – bis jetzt. Heiß und salzig flössen ihr die Tränen aus den Augen; zuerst schämte sie sich dafür, weil sie sie verräterisch und entblößend deuchten. Zuletzt erfreute sie sich trotzig an dem endlosen Fluss. Dass Irmintrud verächtlich und irgendwie verwirrt darauf blickte, schien ihn nur noch mehr zu speisen.
»Dein Vater mag sich mit euch versöhnen, weil er nicht anders kann«, sagte Irmintrud. »Ich weiß, dass Balduin gedroht hat, sich ansonsten mit den Normannen zu verbünden, was das schäbigste von all seinen Vergehen ist. Aber ich, ich werde euren Bund ganz gewiss nicht segnen.«
Judiths Tränen versiegten. Sie wischte sie nicht weg, aber sie fühlte sich erstarkt genug, um wieder aufzublicken. Einen Moment kämpfte sie mit sich, irgendetwas zu sagen, was die Mutter trotz allem versöhnlich stimmen konnte, doch dann gab sie es auf.
»Ich brauche deinen Segen nicht, Mutter«, sagte sie leise.
Irmintrud wandte sich endgültig ab. »Du bist eine Schande für dein Geschlecht«, sagte sie anstelle eines Abschiedswortes.
Ebenso wie zuvor, da er in Judiths Begleitung in der Pfalz eingetroffen war, schienen alle Menschen zu erstarren, kaum dass Balduin in ihre Nähe kam. Doch sobald er ihnen den Rücken zugekehrt hatte, hörte er das Raunen hinter sich. Er wusste nicht, ob es von Verachtung oder Missgunst genährt war, von Hohn oder Hass, aber seine Wunde begann schmerzhaft zu pochen, als sie das Hauptgebäude erreichten und eine Treppe
Weitere Kostenlose Bücher