Das Geständnis der Amme
um Neugierde an seiner Umgebung zu zeigen. Von Senlis hatte er bislang kaum etwas anderes zu sehen bekommen als die wuchtige Stadtmauer. Nun gewahrte er munteres Treiben im Hof. Am Abend zuvor war
Bischof Erpuinus heimgekehrt, hatte sich jedoch gleich nach der Reise zurückgezogen, sodass Balduin ihn nicht gesehen hatte.
Jetzt stieß er hier auf den Hofstaat, den der Bischof um sich versammelte: zwar nicht auf dessen vornehme Mitglieder, die sich lieber im Inneren wärmten – die Notare, die Priester, der Schatzmeister –, jedoch auf die jungen Vorbeter und Sänger, die persönlichen Bediensteten und die Handwerker wie Goldschmiede, Münzer und Maurer, Schmiede, Sattler und Schuhmacher. Sie alle standen unter der Befehlsgewalt des Bischofs und zählten zur
Familia,
was freilich nicht immer einen besseren Status als den von Leibeigenen versprach.
Auch an einem kalten Wintertag schien es für diese Handwerker viel zu tun zu geben. In den letzten Tagen hatte Balduin erfahren, dass der Bischof – neidisch auf andere Bischofssitze – weitreichende Umbauarbeiten an seinem Palast angeordnet hatte, um ihn noch größer, noch mächtiger erscheinen zu lassen. Er war, so raunte man sich zu, für seine Liebe zum Reichtum ebenso bekannt wie für seinen Geiz.
Joveta, die nach ihrer Bloßstellung durch Judith zunächst jede Begegnung mit Balduin gescheut hatte, gestern Abend aber doch wieder in der Badestube erschienen war, wo er sich im warmen Wasser aalte, hatte ihm berichtet, dass viele – allen voran Judith – Erpuinus von Senlis mit jenem armen Sünder aus einer Höllenvision verglichen, der fortwährend Gold trinken musste und doch weiterhin Durst hatte.
»Und es ist noch schlimmer, seit es in Senlis auch einen Grafen gibt.«
»Einen Grafen?«
»Ja, bis dahin war der Bischof allein Stadtherr. Doch seit die Normannen das Land heimsuchen, hält es der König für besser, wenn weltliche Männer anstatt geweihte die Burgen und Stadtmauern befestigen und sie notfalls verteidigen. Der Bischof von Senlis ist nicht der Einzige, der darüber Klagen führt.«
»Ich habe den Grafen noch nicht gesehen …«, hatte Balduin eingeworfen.
»Weil der Bischof ihn nicht in seiner Residenz dulden will! Er verbietet ihm auch, bei jenen Geschäften mitzuwirken, die der Bischof mit dem Abt von Saint-Denis und dem Grafen von Sellentois führt.«
»Wenn er wirklich so habgierig ist, dienen diese Geschäfte wohl dem Zwecke, seinen Reichtum zu vergrößern.«
Joveta hatte ernsthaft genickt und sich dann so tief vorgebeugt, dass er auf den Spalt ihrer Brüste blicken konnte. »Der Bischof liebt gutes Essen«, erzählte sie ebenso freimütig, wie sie ihm ihren Körper darbot. »Es heißt, wenn die Tafel gefüllt ist, nimmt er zwischendurch Aloe, um sich zu erbrechen, damit er danach möglichst ausgiebig weiteressen kann. Und es heißt auch, dass er die Nacht nicht nutzt, um zu schlafen und seinen Leib zu stärken, sondern um in seine Schatzkammer zu gehen und dort seinen Besitz zu überprüfen. Jenen nimmt er auch überallhin mit auf Reisen: Kelche aus Gold und Silber, vierzig braune Messgewänder, fünf aus schwarzer Seide, drei aus persischer, eines schließlich aus Silberfäden. Und außerdem … außerdem verfügt er ja über Judiths Brautschatz – in Form von Münzen aus Edelmetall, wertvollen Steinen, Seidenstoffen.«
»Judiths Brautschatz?«, fragte Balduin.
»Als sie zum zweiten Mal Witwe wurde, hat sie sämtlichen Besitz in Wessex, den ihr die beiden Ehemänner übertragen hatten, verkauft und ist mit dem Erlös ins Frankenreich zurückgekehrt. In Wessex konnte sie nicht bleiben – der dortige Adel wollte sie nicht. Kaum hier angekommen, hat der königliche Vater ihr befohlen, darauf zu warten, was er über sie entscheiden würde … und das Gold hat er dem Bischof von Senlis anvertraut, damit jener darüber wache. Nun, vielleicht ist er der trefflichste Mann für eine solche Aufgabe, weil er sich mit Gold gut auskennt … vielleicht aber grade darum der falsche.«
Balduin hatte nicht weiter nachgefragt; zu ungern hörte er irgendjemanden Judiths Namen in den Mund nehmen. Doch als er jetzt im Hof das Treiben der vielen Menschen beobachtete, die dem Bischof unterstanden – sei es, um ihm persönlich zu dienen,seine Residenz angenehm zu gestalten oder seinen Besitz durch Zins- und Zehnterträge, Geldbußen und Opfergaben zu vergrößern –, dachte er unwillkürlich an die Worte, die einst der asketische Bruder Ambrosius zu
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