Das Gewicht der Liebe
aufziehenden Santa-Ana-Wind, begegneten sich Roxanne und Elizabeth Banks zum ersten Mal: beste Freundinnen für immer, Seelenschwestern, das verwegene Duo. Hätten sie sich wenige Jahre früher kennengelernt, wäre Roxanne noch zu beschäftigt mit Simone und ihren Forderungen gewesen; wenige Jahre später, und ihrer beider Leben hätte bereits einen unterschiedlichen Kurs genommen. Stattdessen standen sie an jenem Tag nebeneinander in der Reihe, eine jede glühend vor Aufregung, voller Hoffnung und ein wenig ängstlich, aber auch gespannt auf neue Erfahrungen und auf jemanden, mit dem man sie teilen konnte.
Sie waren so unterschiedlich, wie zwei achtzehnjährige Mädchen aus unterschiedlichen Ecken Kaliforniens nur sein konnten. Roxanne, groß und dünn, zugeknöpft und ruhig, Elizabeth, blond und blauäugig, hübsch auf die adrette Art eines höheren Töchterchens, aber mit einem hemmungslosen, leichtsinnigen Wesen, das in völligem Ge gensatz zu ihrem Äußeren stand. Sie hing diversen New- Age-Glaubensrichtungen an, die sie nach Belieben zu variieren schien. Ihre Eltern, Santa-Cruz-Akademiker, und ihre beiden wilden jüngeren Brüder nahmen Roxanne wie eine Heimatlose bei sich auf und fanden an ihrem gesitteten Verhalten vieles, was sie erstaunte und erheiterte.
Elizabeth überredete Roxanne, den Orientierungskurs zu schwänzen. Sie kauften Limonade und machten es sich auf einem Streifen gelblichen Rasens vor dem Aztec Center bequem.
»Erzähl mir alles über dein Leben«, sagte Elizabeth.
Niemand hatte jemals solch ein Ansinnen an Roxanne gestellt. Sie begann zu reden und konnte nicht mehr aufhören. An einer Stelle überraschte sie sich selbst, als sie sagte: »Wenn es nach Mom ginge, würde ich den Rest meines Lebens zu Hause verbringen und für Simone den Babysitter spielen.«
»Ogottogott! Ich würde sterben. Ich würde mir die Pulsadern aufschneiden.« Elizabeth ließ sich auf den Rasen zurückfallen, die Arme weit ausgestreckt wie eine Gekreuzigte, und setzte sich dann wieder auf. »Was willst du mit deinem Leben anfangen?«
Seit langer Zeit existierte diese Frage bereits in den Außenbezirken von Roxannes Bewusstsein, doch sie hatte sie immer nur aus der Distanz betrachtet, hatte sich nie eingestanden, dass das Leben für sie mehr bereithalten könnte als die Fürsorge für ihre Schwester. Das Mantra, das sie beruhigte und das ihre Geduld, wenn diese nachließ, wieder gestärkt hatte, war der Gedanke an die Zukunft gewesen. Die Zukunft würde dann beginnen, wenn sie die Highschool beendet, das College abgeschlossen und einen Job hätte, um sich selbst versorgen zu können. An jenem heißen Tag hatte Elizabeth erfrischend wie ein arktischer Windstoß gewirkt, als sie mit hundertprozentiger Überzeugung, die für sie charakteristisch zu sein schien, verkündete: »Deine Zukunft beginnt heute!«
Angetrieben von der Energie, mit der ihre neue Freun din ihrer Entrüstung Ausdruck verliehen hatte, ging Roxanne noch am selben Abend zu ihrem Stiefvater, BJ , und bat ihn, sich bei Ellen dafür einzusetzen, sie, Roxanne, im Studentenwohnheim auf dem Campus wohnen zu lassen, statt wie ursprünglich geplant zu Hause. Er willigte ein, und nach etlichen lautstarken Diskussionen mit Ellen hinter verschlossenen Türen setzte er sich schließlich durch. Simone weinte und klagte, als würde Roxanne nach Südamerika ziehen und nicht einfach nur ans andere Ende der Stadt. Vom ersten Tag an lag sie Roxanne in den Ohren, sie solle wieder nach Hause zurückkommen, rief zu allen Tages- und Nachtzeiten bei ihr an. Doch Roxanne blieb hart. Ellen bot ihr Geld und ein neues Auto an, wenn sie zurückkäme. Rückblickend betrachtet, erstaunte es Roxanne, dass sie nicht eingeknickt war, und sie wusste, dass sie das Elizabeth zu verdanken hatte.
Eine lahme Kellnerin mit einem Haarnetz und einer gerüschten weißen Schürze über einer Uniform in der Farbe von geronnenem Blut blieb stehen, um ihnen Kaffee nachzuschenken.
Nachdem sie weitergegangen war, sagte Elizabeth: »Du hättest nach Chicago fliegen sollen. Wenn Eddie hier wäre, würde ich ihn keinen Moment allein lassen.«
Elizabeths Mann war beim Marine Corps und seit sieben Monaten in Afghanistan stationiert. In der ersten Zeit seines Einsatzes hatte Elizabeth eine Phase durchlebt, in der sie sehr dünnhäutig war und nicht von Eddie sprechen konnte, ohne sofort zu weinen; inzwischen, nach Monaten der Trennung, hatte sie sich eine stoische Resignation angeeignet, die
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