Das Gewicht der Liebe
Victoria.
Merell schrie: »Komm hoch zu mir, Mommy.«
»Mommy kann nicht sprechen«, sagte Valli.
»Mommy weint.«
5
A ls Roxanne nach Hause kam, stand Ty auf der Terrasse und blickte auf den Canyon hinaus. Unten in Mission Valley war der Verkehr auf der Interstate 8 lahmgelegt, auf der Standspur blitzten die Lichter eines Rettungswagens und zweier Polizeiautos. Die Luft war windstill und heiß und duftete nach Eukalyptus.
»Ich hatte gar nicht mehr mit dir gerechnet.«
»Wir müssen reden.«
Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir können uns im Flugzeug unterhalten.«
»Wir haben genügend Zeit.«
»Nicht, wenn du noch einen Hamburger essen willst.«
»Ich habe keinen Hunger, Ty. Können wir uns setzen?«
Einen langen Moment blieb er reglos stehen, sah sie unentwegt an. Obgleich sie seinem Blick standhalten wollte, schaffte sie es nicht. Jenseits des Canyons spielte jemand auf dem Klavier eine komplizierte Tonleiterfolge, das Muster der Noten wiederholte sich wieder und wieder in endlosen Variationen. Sie blickte auf die herumliegenden Blüten blätter der Bougainvillea hinunter, die wie matt schimmern de Goldmünzen auf der Terrasse verstreut waren.
»Die sollte ich auffegen, bevor wir gehen«, sagte sie.
»Erzähl mir einfach, was bei Simone los war. Deshalb bist du doch hingefahren. Was hat sie gesagt?«
»Dasselbe, was im Radio berichtet wurde, aber ich glaube ihr nicht.«
Sie dachte an Shawn Hutton und die anderen Jungen in Simones Leben, und sie hörte wieder, wie Simone über Johnny sagte: Es ist nicht allzu schwierig, einen Mann zu täuschen, der getäuscht werden will. Dasselbe ließe sich über eine ältere Schwester sagen.
Sie zwang sich, Ty anzusehen; so viel war sie ihm zumindest schuldig. »Ich kann nicht einfach wegfliegen, als wäre alles in Ordnung.«
Sie sah, wie seine Züge sich verhärteten, gleich einem angespannten Muskel.
»Ich möchte dich dort an meiner Seite haben, Roxanne.«
»Und ich würde gern mitkommen. Aber in dem Zu stand? Ich wäre dir keine gute Stütze.« Schweißtropfen perl ten über ihren Nacken. »Ich wäre eher eine Last. Du bist besser dran …«
»Blödsinn.«
»Geh nicht einfach weg, Ty.« Sie folgte ihm ins Haus. »Betrachte es doch mal von meinem Standpunkt aus.«
»Oh, das habe ich. Glaub mir, ich habe deinen Standpunkt von allen Seiten erforscht.«
»Du kannst nicht erwarten, dass ich Simone ignoriere. Sie ist verletzlich …«
»Wenn ich die Stelle kriege – falls ich sie kriege –, was wirst du dann tun? Chicago ist von deiner verletzlichen kleinen Schwester zweitausend Meilen entfernt.«
»Tyrone, ich werde mit dir nach Chicago ziehen.« Sie redete mit ihm, als wäre er ein Schüler, dem man zum wiederholten Mal etwas erklären musste. »Ich habe dir gesagt, dass ich das tun werde, und das habe ich auch so gemeint.«
»Danke für das Opfer, Roxanne.«
Sie hörte den Sarkasmus, der so untypisch für ihn war, und die Schwingungen eines langen Mollakkords vibrierten durch sie hindurch wie eine Warnung. Sie ließ sich auf das Sofa fallen.
»Ich liebe dich, ich liebe sie.« Ty konnte sich um sich selbst kümmern, Simone konnte das nicht. »Ich dachte, du würdest das verstehen.«
»Noch nicht gehört, Roxy? Verständnis ist der Trostpreis.« Er setzte sich auf das Sitzkissen ihr gegenüber. »Als wir geheiratet haben, wusste ich, dass diese Sache mit Simone ein ständiger Kampf sein würde, doch ich habe unterschätzt, wie ich mich dabei fühlen werde.« Er starrte auf das quadratische Stück Teppich hinunter, klar umrissen durch seine Sportschuhe. »Und ich dachte, ich glaubte, wir könnten es bewältigen, weil wir dieselben Vorstellungen von Ehe haben und uns gegenseitig ein Versprechen gegeben haben. Ich meine, sonst hätten wir alles so lassen können, wie es war, und einfach nur zusammenleben können. So ist es doch, oder?« Er hielt inne. »Warum hast du mich geheiratet, Roxanne?«
»Ich liebe dich.« Seine Frage, die so simpel daherkam, war in Wahrheit eine Falle. Sie wusste, dass sie, egal, wie ihre Antwort ausfiele, niemals das Richtige sagen würde. »Ich möchte mein Leben mit dir verbringen.«
»Was ist mit Kindern?«
»Dieses Thema hatten wir bereits, Ty. Du weißt, dass ich gern mit dir Kinder haben will.«
»Und falls wir eines kriegen sollten, wer käme dann zuerst? Unser Kind oder deine Schwester?«
»Unser Kind natürlich. Wie kannst du das überhaupt fragen?«
Er nickte, als sähe er seine Annahme bestätigt.
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