Das Gewicht der Liebe
unvorstellbar bei dem lebhaften, ungestümen Mädchen gewesen wäre, das Roxanne am ersten Tag des Orientierungskurses kennengelernt hatte.
»Ich bin so ein Idiot, Liz, rede ständig nur von mir, obwohl du ganz andere Sorgen hast.«
»Heute Morgen glaubte ich, ich würde hören, wie er meinen Namen sagt. Es war ein Traum, sicher, aber man sollte auf seine Träume achten. Man weiß nie, was sie womöglich bedeuten. Ich habe mir gedacht, dass sein Geist vielleicht versucht, zu mir durchzudringen.« Ihre Augen schimmerten unter dem fluoreszierenden Licht. »Was, wenn er tot ist und ich es nicht weiß? Nein, ich bin mir sicher, dass ich das wissen würde. Wir sind zu stark miteinander verbunden. Ich würde es wissen, ich würde es wissen müssen.«
Roxanne wusste darauf nichts zu sagen. Ihre eigenen Sorgen wirkten banal im Vergleich zu denen ihrer Freundin.
Elizabeth sagte: »Das Militärleben ist in vielerlei Hinsicht verdammt hart, aber ein Aspekt, über den kaum geredet wird, ist der, wie es dein Leben ausbremst. Paare wie Eddie und ich, die keine Kinder haben oder noch nicht lange zusammen sind, wir haben es manchmal sehr schwer, an unsere Ehe zu glauben. Ich meine, wie lange konnten wir ein ganz normales Eheleben führen? Nicht einmal vier Monate. Und jetzt sind wir schon doppelt so lang getrennt. Wir verpassen all die kleinen Dinge, die einer Ehe Substanz geben …« Sie starrte auf ihren Teller hinunter. »Manchmal macht es mich so traurig, wenn ich an all die Jahre denke, die wir vergeuden.«
»Einer Ehe Substanz geben? Ich weiß nicht, was du damit meinst.«
»Sicher weißt du das. Es bedeutet, nach Chicago oder wohin immer zu gehen. Wenn du ein tolles Angebot in Fargo hättest, würde er mitkommen. Das ist doch richtig, oder?«
Plötzlich war sie wütend auf Elizabeth. Wie es aussah, würde sie wohl ohne Freunde und ohne Familie enden, abgesehen von Simone.
»Ich liebe meine Schwester.«
Elizabeth stöhnte. »Ich habe es so satt, das zu hören, Roxanne. Wenn du deiner Schwester wirklich etwas Gutes tun willst, dann solltest du sie loslassen.«
Roxanne sah Simone über Bord gehen, sah die Oriole an ihr vorbeiziehen. Nicht einmal Elizabeth konnte begreifen, dass Roxanne die Schwimmweste ihrer Schwester war.
»Du bist auf seiner Seite.«
»Seite, Seite … Jetzt hör mir mal zu, Roxanne. Es ist an der Zeit, dass du dich um dich selbst kümmerst.«
Die Gespräche in den anderen Sitzecken waren ein leises, einträchtiges Summen, hin und wieder durch Gelächter akzentuiert. Es schien, als hätte nur Roxanne ihre Probleme zum Frühstück mitgebracht.
»Engel sind real«, sagte Elizabeth nun. »Davon bin ich fest überzeugt, nur haben sie keine Flügel und Halos und derlei Zeug. Sie nehmen die Gestalt der Menschen an, die in unser Leben treten. Wie ich ein Engel für dich war, als wir uns kennenlernten, denn wenn das nicht gesche hen wäre, würdest du vermutlich immer noch zu Hause wohnen.«
Sie hatten schon öfter darüber gesprochen. Roxanne gefiel die Vorstellung von Elizabeth als hübschem blonden Engel, der in ihr Leben flog, seine Flügel und das wallende Gewand irgendwo versteckte und sich Jeans und ein Glitzer-T-Shirt überstreifte.
»Und dann kam Ty. Er war der Engel, der dir sagte, es ist okay zu heiraten und eine eigene Familie zu haben.« Sie lachte. »Ein Engel namens Tyrone. Aber ich glaube, du hast deinen Anteil an himmlischem Beistand gehabt. Jetzt liegt es an dir, Roxanne. Du musst dein eigener Engel sein.«
6
I m Verlauf der nächsten Wochen, die sich vom Juli bisweit in den August hinein erstreckten, hielt Roxanne oft inne, um im Stillen dafür zu danken, dass Merells 911-Notruf und Tys Chicagoreise in dieselbe Woche gefallen waren und eine Krise heraufbeschworen hatten, die, so schwierig sie auch war, ihre Ehe mit neuer Kraft zu beleben schien. Wenn Simone jammerte, Roxanne würde sie nicht besuchen, wenn sie Roxanne drängte, für sie einkaufen zu gehen, ihr etwas vorzulesen, mit ihr Rommé zu spielen oder ihr die Haare zu waschen, stellte Roxanne immer wieder fest, dass die Ablösung von Simone zwar das Schwierigste war, was sie jemals getan hatte, aber dennoch stattfand.
In jenem August merkte Roxanne zuweilen, wie sie sich langsam entfaltete, erblühte. Sie schlief lange, trank ihren Morgenkaffee mit einem Buch vor sich auf der Terrasse und arbeitete im Garten, bis zu den Ellbogen in Kompost und Mulch buddelnd. Irgendwo hatte sie gelesen, dass Gärtner von Natur aus
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