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Das Gewicht der Liebe

Das Gewicht der Liebe

Titel: Das Gewicht der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Campbell Drusilla
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verbringen, und obwohl sie wusste, dass sie sich rückwärts bewegte, dass die Distanz zwischen Ty und ihr in Relation zu den Stunden, die sie mit Simone verbrachte, größer wurde, ließ sie nicht davon ab.
    Sie würde nicht betteln.
    Eines Tages Ende August – Roxanne war nach einem Nachmittag bei ihrer Schwester im Begriff, sich auf den Heimweg zu machen – stieß sie auf Johnny, der gerade aus der Garage in die Küche kam. Er streckte die Arme weit aus, hüllte Roxanne darin ein.
    »Rox, was machst du denn hier?«
    »Ich war mit den Zwillingen beim Zahnarzt. Keine Löcher. Als Belohnung ist Nanny Franny danach mit ihnen ins SeaWorld gegangen.«
    »Unsere Franny ist sehr dahinter her, dass sie morgens und abends die Zähne putzen.«
    »Ich habe auch für Simone einen Termin ausgemacht. Ich glaube, sie war seit Jahren nicht mehr bei der Zahn reinigung. Man sieht den Belag schon mit bloßem Auge.«
    »Du bist eine gute Schwester, Roxanne. Ich weiß wirklich zu schätzen, was du alles für sie tust. Komm, gehen wir auf einen Drink in mein Büro.«
    »Ich bin auf dem Heimweg.«
    »Gin Tonic, richtig?«
    Er war ein großer, attraktiver, lächelnder Bulldozer mit einer nahezu unwiderstehlichen Strahlkraft; von ihm ging ein Leuchten aus, das Gespräche zum Verstummen brachte, wenn er einen Raum betrat. Anfangs war es Roxanne schwer gefallen, einem so charmanten, gut aussehenden Mann zu vertrauen. Doch im Lauf der Jahre waren ihre Zweifel durch seine offenkundige Zuneigung für Simone und seine Familie besiegt worden. Sicher, er hatte ein aufbrausendes Temperament und neigte dazu, gemein und verletzend zu werden, wenn er wütend war, aber Roxanne hatte gelernt, ihm in solchen Momenten aus dem Weg zu gehen.
    Der Schreibtisch in seinem Büro war übersät mit Bauplänen und Entwürfen, Briefkuverts, Akten und wattierten Umschlägen aus Manilapapier. Roxanne hoffte für ihn, dass er niemals schnell etwas finden müsste. Fotos von Johnny mit dem Gouverneur, dem Bürgermeister und beiden kalifornischen Senatoren hingen an der Wand neben Fotos von Simone und den Mädchen, Johnnys Schwestern und Eltern.
    Roxanne ließ sich zu einem gemütlichen, abgewetzten Ledersessel führen.
    »Leg die Beine hoch«, sagte Johnny, ihr ein Sitzkissen zu schiebend. »Du bist Lehrerin. Lehrer haben müde Beine.«
    Es war typisch Johnny, so etwas zu sagen. Er wollte ihr das Gefühl geben, willkommen und geschätzt zu sein, wiewohl Roxanne bezweifelte, dass er sich jemals mit dem Schulalltag oder mit Lehrern und deren müden Beinen befasst hatte, ehe ihm dieser so passende und charmante Gedanke in den Sinn gekommen war.
    Er stellte sich hinter die Bar. »Was hat Merell heute getrieben?«
    »Jedes Mal, wenn ich nach ihr gesehen habe, hatte sie ihre Nase in einem Buch.«
    Er reichte ihr ein kristallenes Highballglas, in dem Tonic- Water-Bläschen blubberten. »Diese Sache letzten Monat, ich wusste, der Sturm würde sich wieder legen, obwohl mir immer noch nicht klar ist, was genau sich da abgespielt hat. Wir beide wissen doch genau, dass Merell zu klug ist, um ohne Grund die 911 zu wählen.«
    Roxanne wusste nur, dass kluge Kinder dazu neigten, allen möglichen Unsinn anzustellen, wenn sie in der Familie nicht genügend Aufmerksamkeit erhielten. Auch die beste Nanny der Welt konnte ein liebendes Elternteil nicht ersetzen.
    Sie sagte: »Ich glaube … Nun ja, vielleicht fühlt sie sich ein wenig verloren. All die Babys … und Simone. Wahrscheinlich wollte sie Aufmerksamkeit haben.«
    Johnny runzelte die Stirn und starrte in seinen Drink.
    »Ich erlebe das ständig, Johnny.« Roxanne wollte jeden Anflug von Schuldzuweisung vermeiden. »Gerade kluge, talentierte Kinder kann man leicht übersehen. Wir vergessen oft, dass sie trotz allem Kinder sind.«
    Sie erzählte Johnny von der abgearbeiteten, alleinerziehenden Mutter, mit der sie sich auf einem Elternabend unterhalten hatte. Mit seinen knapp dreizehn Jahren war ihr Sohn bereits über einen Meter achtzig groß, wog hundert Kilo und rasierte sich zweimal in der Woche. Doch er war ein guter Junge, intellektuell und sozial einer der besten.
    »Ich fragte seine Mom, was ihr Geheimnis sei. Und sie erwiderte: ›Er mag zwar groß sein, aber er ist trotzdem noch ein Kind, das seine Streicheleinheiten benötigt‹.«
    Während sie redete, dachte sie an Ty, an die undurchdringliche Maske, die er seit dem Anruf aus Chicago aufgesetzt hatte. Es war schwer, an die Liebe zu glauben, wenn sie verborgen

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