Das Gewicht der Liebe
»Damit stünde ich an dritter Stelle, richtig?«
Panik flatterte wie ein Vogel in ihrer Kehle. »Das ist eine dumme Unterhaltung. Diese Nummern bedeuten absolut nichts.«
»O doch, das tun sie, und wie sie das tun. Hör zu.« Er ergriff ihre Hände. »All dieses altmodische Zeug bei der Hochzeitszeremonie? Ich glaube daran. In Krankheit und Gesundheit, in guten und bösen Tagen, allen anderen entsagend. Diese Worte bedeuten sehr viel für mich. Vor unserer Hochzeit habe ich den Text der Zeremonie sicher ein Dutzend Mal gelesen, Roxanne. Ich wollte sicher sein, dass ich es auch so meine, wenn ich gelobe, dir bis zum Lebensende die Treue zu halten.«
»Willst du damit sagen, ich hätte das nicht so gemeint?«
»Ich will damit sagen, dass du dich, als du diesen Schwur geleistet hast, bereits zur Treue gegenüber Simone verpflich tet hattest. Du hast mich einfach an sie drangeheftet.«
»Das ist so unfair.«
Er schien sie nicht gehört zu haben. »Dein Glück, deine Gesundheit, dein Wohlbefinden, einfach alles, es steht für mich an erster Stelle. Da muss ich nicht eine Sekunde darüber nachdenken. Hätten wir Kinder, wärst du für mich immer noch die Nummer eins.«
Erwartete er ein Lob, weil er seine Prioritäten derart klar gesetzt hatte? Machte ihn das zu einem besseren Menschen oder lediglich zu einem Menschen, der noch niemals auf die Probe gestellt worden war?
Er sagte: »Wenn es dein echter, wirklich tiefer Wunsch ist, dass ich nicht nach Chicago gehe, werde ich es nicht tun. Ich werde sofort dort anrufen und sagen, ich hätte es mir noch einmal überlegt und wolle lieber am Salk bleiben.«
Genau das wünschte sie sich, aber es zuzugeben wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass sie Simone nicht verlassen konnte , dass sie auf eine so tiefe Art mit ihrer Schwester verbunden war, wie sie es mit ihm nicht war. Selbst wenn das stimmen würde – was natürlich nicht der Fall war –, wollte sie ihm nicht die Befriedigung geben, dies aus ihrem Mund zu hören.
»Sag es mir einfach«, beharrte er. »Soll ich anrufen oder nicht?«
»Ty, so einfach ist das nicht. Du kommst aus einer Norman-Rockwell-Familie. Keine schweren Neurosen, keine Leichen im Keller. Deine Geschwister und du, ihr seid alle selbstbestimmte Erwachsene, unabhängig und glücklich.«
Sie wusste, sie übertrieb. Unter Tys Geschwistern gab es Unstimmigkeiten, wurde persönlicher Groll gehegt und emotionale Erpressung betrieben wie in jeder anderen Familie auch.
»Ich bin die einzige Person, der Simone komplett vertraut. Wenn ich sie im Stich lasse, hat sie niemanden mehr. Unsere Mutter kannst du vergessen, für sie stand ihr eigenes Leben immer an erster Stelle. Und Johnny liebt nun mal vor allem seine eigene Vorstellung von Simone. Wenn sie ihm auf die Nerven geht oder ihn enttäuscht, verschwindet er ins Büro oder geht mit dem Bürgermeister zum Angeln. Oder er heuert einen neuen Babysitter an oder eine Köchin oder so. Ich bin diejenige, die ihr zur Seite steht, ganz egal, wie schrecklich sie sich auch benimmt. Ich bin diejenige, die immer für sie erreichbar ist.«
»Nun, damit solltest du aufhören.«
Sie dachte, vielleicht, ja, aber nicht dieses Wochenende, nicht heute.
Ty sagte: »Ich beobachte den Kampf, der jedes Mal in dir stattfindet, wenn sie anruft. Und wenn du über sie sprichst, achte mal auf deine Stimme, Roxy – sie klingt, als vibrierte hinter deinen Worten ein unterschwelliger Schrei. Es zerreißt dich, aber du kümmerst dich schon so lange um Simone, dass du das gar nicht mehr spürst. Du weißt nicht, was diese Beziehung bei dir anrichtet, aber ich weiß es. Und ich hasse es, und manchmal hasse ich sie.«
Langsam fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht. »Sicher, du hattest eine schwierige Kindheit, und mir ist klar, dass du dich nicht von heute auf morgen aus diesem Geflecht lösen kannst. Aber es muss geschehen, Rox, andernfalls werden wir beide es nicht hinkriegen. Selbst wenn ich akzeptieren könnte, dass ich nicht der wichtigste Mensch in deinem Leben bin, halte ich es nicht aus, dich so leiden zu sehen. Da überlasse ich den Sieg lieber Simone.«
Sie vernahm seine Worte, das Ultimatum, doch sie waren in einer Sprache gesprochen, die sie kaum verstand.
»Ich kann nicht mehr streiten«, sagte sie.
»Wir streiten nicht.«
»Das ist kein Streit?« Sie versuchte zu lachen. »Was ist es dann?«
»Ein klärendes Gespräch, wie ich finde.«
Ihr Verstand war nicht aufnahmefähig genug, um irgend
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