Das Gewicht der Liebe
ihre Mutter nicht einmal zu Besuch. Aber ein-, zweimal im Monat fanden sich im Briefkasten fröhlich bedruckte Grußkarten mit den Worten: Sei brav, alles Liebe – Mom . Manchmal schrieb sie ein paar Zeilen hinzu, in denen sie berichtete, was sie gerade machte, aber meistens waren es dieselben fünf Worte: Sei brav, alles Liebe – Mom . Die Samstagabendanrufe aus San Diego wurden kürzer und unbeholfener, je mehr Wochen und Monate verstrichen. So sehr Roxanne diesen Anrufen auch entgegenfieberte, sie konnte ihrer Mutter niemals ihre Gedanken und Gefühle mitteilen. Ellen sagte meist so etwas wie: »Na, wie geht’s dir da oben so, Roxanne? Hält sie dich schön auf Trab? Ich wette, das tut sie.« Und Roxanne wusste nie, wie sie darauf antworten sollte, oder ob überhaupt eine Antwort erwünscht war. Während der langen Gesprächspausen hörte sie in der Leitung den Atem ihrer Mutter, eine Schwingung aus Melancholie und Unzufriedenheit, die sich in Roxannes Herz einnistete und dort noch Tage danach schmerzte.
Und dann, als Roxanne neun Jahre alt war, rief Ellen eines Tages so unerwartet wie ein jäher Tornado, der aus dem Süden über sie hereinbrach, an, es war an einem Dienstag, um mitzuteilen, sie werde am Samstag kommen und ihre Tochter nach San Diego zurückholen. Sie habe keine Zeit, auf der Ranch herumzuhängen. Sie müsse Montagfrüh bei ihrer Maklerschulung sein.
Am gleichen Tag fuhr Gran nach Daneville und kam mit einem roten Segeltuchkoffer zurück, um alles zu verstauen, was sich bei Roxanne im Lauf der Jahre auf der Ranch angesammelt hatte – die Bluejeans und Schuluniformen, ein Paar Lacklederschuhe für besondere Anlässe, ein Buch mit Hundegeschichten und eine Schachtel mit kleinen Schätzen und Andenken. Am Samstag lag der Koffer geöffnet auf Roxannes Bett, ein aufgerissener Schlund, der darauf wartete, ihr Leben in Daneville zu verschlucken und es in San Diego wieder auszuspucken. Grans warme, raue Hand drückte sacht gegen Roxannes Rücken, drängte sie zur Eile.
»Sie wird vor dem Abendessen da sein.« Grans Ton war schroff. Sie räusperte sich. »Ich werde dir ein paar belegte Brote machen, die du im Auto essen kannst. Deine Mutter wird sofort zurückfahren wollen.«
»Aber ich will nicht weg.« Roxanne schlang die Arme um Grans festen Körper, schmiegte ihr Gesicht an Grans Flanellhemd. »Ich möchte hier bei dir bleiben.«
Roxanne wusste, dass jede Diskussion reine Atemverschwendung wäre. Nicht, weil Gran starrköpfig war – was sie war – oder weil sie Roxanne loswerden wollte – was, wie sie beide wussten, nicht stimmte. Gran hatte nicht lange um den heißen Brei herumgeredet und gesagt, sie wünschte, Roxanne könne auf der Farm bleiben. Aber ihre Mutter habe das Sorgerecht, weil dies nun mal das Gesetz sei. Gran sagte, auch wenn es einem das Herz bräche, wäre das dem Gesetz egal.
Nach den Jahren in Grans geräumigem Haus fühlte sich die Wohnung in San Diego beengt an, und sie roch schmutzig, ganz gleich, wie oft Roxanne sie putzte. Sie putzte die Wohnung so, wie Gran es ihr beigebracht hatte, in den Ecken und unter den Möbeln, wo sich die Spinnen zum Sterben zurückzogen. Sie bemühte sich, glücklich zu sein, und spielte diese Rolle so gut, dass sie fast selbst daran glaubte. Aber wenn sie abends ins Bett ging oder morgens zeitig wach wurde, wanderten ihre Gedanken zu Gran, die sie »mein Mädchen« genannt hatte.
So wie Gran es gesagt hatte, bedeutete es alles, jemandes Mädchen zu sein.
Als sie ungefähr eine Woche zurück in San Diego war, fragte Roxanne, wo Simones Vater sei. Ellens Antwort bereitete diesem Thema sofort und für alle Zukunft ein Ende. »Ich weiß es nicht und es ist mir egal und das sollte es dir auch sein, wenn du weißt, was für dich gut ist.«
Die alten Zeiten.
Roxanne hatte rasch gelernt, für ihre Schwester zu sorgen. Zur Abendbrotzeit kam Ellen von ihrer Maklerschulung zurück und zog sich für ihre Arbeit als Barfrau im Captain Jack’s in Mission Beach um. Simone war nachts oft unruhig, und um sie zu beruhigen, nahm Roxanne sie zu sich ins Bett. Simones Haut war weich und so warm, als würde ein Feuer in ihr brennen.
Sie war ein winziges, nervöses Geschöpf, das ständig lächelte, aber nichts anderes tun konnte, als auf dem Rücken zu liegen und mit ihren Gliedmaßen zu zappeln wie eine umgedrehte Schildkröte. Ihre Augen waren groß und von einem tieferen, dunkleren Braun als Roxannes. Bei einem bestimmten Licht ließ sich nicht sagen,
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