Das Gewicht der Liebe
wo ihre Pupillen endeten und die Iris begann. Wenn sie schlief, lagen ihre Wimpern wie winzige Bürsten auf ihren Wangenknochen.
Nicht nur in ihrem Schlafverhalten unterschied sich Simone von den Babys, über die Roxanne in dem Buch über Säuglings- und Kinderpflege las, das ihr Ellen gegeben hatte. Sie rollte sich nicht herum und setzte sich auch nicht auf, wie es ihrem Alter, laut der Angaben im Buch, entsprechen würde. Ellen meinte, das sei kein Grund zur Beunruhigung. »Sie ist faul, das ist alles. Nicht jeder ist so ein Senkrechtstarter wie du.«
In jenem ersten Herbst hielt Ellen Roxanne die meiste Zeit über vom Schulunterricht fern.
»Aber was, wenn mich jemand sieht? Ich werde Probleme wegen Schwänzen kriegen.«
»Bleib in der Wohnung.« Ellen hatte für alles eine Lösung. »Wenn du hier bist, wird dich niemand sehen.«
»Ich könnte aber vergessen, wie man dividiert.« Und dann gab es diese interessanten Dinge, die man Bruchzahlen nannte und die Gran ihr gerade zu erklären begonnen hatte. Und zu guter Letzt und am schlimmsten: »Was, wenn ich sitzen bleibe?«
Ellen lachte. »Eher lernen Schweine fliegen.«
Aber als hätte sie sich einige von Roxannes Ängsten zu Herzen genommen, kaufte Ellen ihr Bücher: einen Stapel Mathematikübungshefte, gedruckt auf weiches graues Papier, mit seitenweise arithmetischen Aufgaben und mit Lösungen am Ende, damit Roxanne ihre Rechnungen über prüfen konnte; Kreuzworträtselbücher für Kinder; große Zeichenblöcke aus demselben grauen Papier, das fast wie Stoff war, und eine Riesenschachtel Crayola-Buntstifte. Ellen luchste der Frau in dem Secondhandladen neben der Maklerschule sogar kostenlos einen Karton mit alten National Geographic -Heften ab, indem sie sich als arme, bedürftige Frau ausgab.
»Die werden dich beschäftigt halten«, sagte Ellen und ließ den Karton auf Roxannes Bett fallen.
Roxanne hatte Simones Entwicklung auf den Seiten eines Kalenders festgehalten, und sie gelangte zu der Überzeugung, dass »faul« zwar eine korrekte Beschreibung für Simone war, aber nicht erklärte, was an ihr seltsam war. In einem Alter, in dem sie, wie die Bücher sagten, laufen, rennen und die Welt entdecken sollte, war Simone vollauf damit zufrieden zu sitzen und stundenlang Spielzeug aus dem Plastikbehälter zu nehmen und es wieder zurückzulegen. Sie heulte, wenn Roxanne sie nicht herumtrug, bekam Tobsuchtsanfälle, wenn man sie aus dem Buggy nahm und ihr sagte, sie solle laufen: Ellen konnte bei all dem Lärm nicht lernen! Sie mahnte Roxanne, ihre Schwester hochzunehmen oder im Buggy herumzuschieben oder ihr den Schnuller in den Mund zu stecken.
Ellen versprach Roxanne: »Das ist es wert, glaub mir. Eines Tages werde ich fette Provisionen abkassieren. Wir werden reich sein.«
Roxanne hatte gelernt, den meisten Versprechen ihrer Mutter nicht zu trauen, doch dieses sollte sich als wahr erweisen. Ellen konnte die Wünsche von potenziellen Käu fern erraten. Es war für sie wie ein Spiel, Kunden mit Im mobilien zusammenzubringen, die genau zu ihnen passten. Nachdem sie fünf Monate für die Vadis Group gearbeitet hatte, zogen sie nach Point Loma in ein Reihenhaus um, das zwei Schlafzimmer hatte und einen Balkon, von dem aus man ein winziges Dreieck der blauen Bucht sehen konnte.
Roxanne besuchte die Schule in Point Loma, und nach wenigen Wochen hatte sie den Wissensstand der anderen Mädchen und Jungen in der Klasse aufgeholt. Überrascht stellte sie fest, dass die meisten noch nie etwas von Bruchrechnen gehört hatten, und als das Thema schließlich behandelt wurde, stieg sie mühelos zur Klassenbesten auf. Sie schrieb lange Briefe an ihre Großmutter, in denen sie berichtete, was sie gerade lernte; und bis ihre Großmutter starb, schrieb diese ihr jede Woche zurück.
Für Simone wurde ein Babysitter gefunden, eine Frau, die versuchte – wie ihre Mutter behauptete – Ellen ins Armenhaus zu bringen. Nach der Schule ging Roxanne jeden Tag die drei Blocks zum Haus der Kinderfrau, wo sie von Simone bereits erwartet wurde. Schon von Weitem sah Roxanne ihre kleine Schwester schwankend hinter der Fliegengittertür stehen und hörte das Hämmern ihrer kleinen Hände gegen den Aluminiumrahmen. Dann schrie Simone etwas, nicht unbedingt Roxannes Namen, aber etwas ähnlich Klingendes, und schlug noch fester gegen den Rahmen. Roxanne hatte sich noch niemals so geliebt gefühlt wie damals bei dieser wortlosen Wiedersehensfeier.
Als Roxanne an diese vergangenen Zeiten
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