Das Gewicht der Liebe
dachte, während sie vor dem elektronischen Tor am Ende der Duran’schen Zufahrt stand und darauf wartete, dass es aufging, konnte sie sich erstmals eingestehen, dass die Beziehung zwischen ihr und ihrer Schwester zu eng gewesen war. Sie hatte ihnen beiden die Luft genommen, sich frei zu entwickeln und ein unabhängiges Leben zu führen. Gleichzeitig ärgerte sie sich über Tys Forderung, sie solle Simones großzügig verschenkter Liebe den Rücken kehren, vor allem jetzt, da er so grüblerisch und unkommunikativ war.
7
Huntington Lake, August 2009
A uf dem Flug zum Seehaus war Merell so aufgeregt, dass sie nicht aufhören konnte zu reden, obwohl sie wuss te, dass sie sich wie eine Enzyklopädie anhörte. Als das Flugzeug über die Straße flog, die sich vom San Joaquin Valley ins Vorgebirge hinaufschlängelte und weiter in die graue steinerne Kühle der Felsen und Kiefern, erzählte sie Tante Roxanne, dass der Huntington See der älteste der Edison Stauseen sei, ein von Menschen geschaffenes Rechteck aus eisigem kobaltblauem Wasser, in den 1930ern gebaut, um die Schmelzwassermassen aus den Sierras aufzufangen. Sie erklärte, wie das Wasser vom Lake Edison zum Huntington und weiter zum Shaver Lake geleitet wurde, bis Daddy ihren Redefluss stoppte, indem er sagte, sie solle mit dem Gequassel aufhören. Aber nicht auf eine bissige Art. Merell wusste, dass auch er den See liebte.
Bei der Landung sprang Chowder als Erster hinaus und demonstrierte unmissverständlich seine Vorliebe für festen Boden. Argwöhnisch beäugte er den weißen Range Rover, der von Aldo gefahren wurde, dem Hausmeister des Seehauses, und weigerte sich einzusteigen, bis Tante Roxanne ihm sagte, er dürfe auf ihrem Schoß sitzen, mit seinen ganzen achtzig Pfund.
Neben den Bergen und dem See und dem Haus mochte Merell auch die Straße, die um den See herumführte. Mehr gab es nicht, nur diese eine Straße und eine Menge privater Zufahrtswege – die meisten davon nicht gepflastert. Das Mädchen wies seine Tante auf die Berghütten hin, die man durch die Wälder hindurch sehen konnte und die dicht an den steilen Hängen erbaut waren, viele bereits mit Bret tern vernagelt, als erwartete man einen frühen Winter einbruch.
Die Straße wirkte – auch das gefiel Merell – altertümlich schmal und gewunden, mit meist dichtem Wald zu beiden Seiten. Nirgendwo Fast Food. Daddy sagte, um ein Jack-in- the-Box-Restaurant zu finden, müssten sie bis nach Fresno fahren, über hundert Meilen weit. Am See gab es nirgend wo ein Stadtzentrum, keinen Costco-Großmarkt oder Drug store oder Supermarkt. Aber in der Nähe des Flughafens gab es einen Hafen mit hundert Booten und einen Laden, in dem man Segel-, Angel- und Campingzubehör kaufen konnte. Aldo erzählte Daddy, die Tankstelle gegenüber dem Hafen sei durch all die Autofahrer reich geworden, die nicht genügend Verstand hätten, um unten im Tal zu tanken. In einem Hotel bot ein Ranger abendliche Vorträge über die hiesige Flora und Fauna für die Gäste des halb leeren Campingplatzes an. Es war offensichtlich, dass der Labor Day das endgültig letzte lange Wochenende des Sommers markierte und die Saison für viele schon abgeschlossen war.
»Der Campingplatz ist so gut wie nie voll«, erzählte Merell Tante Roxanne, »weil große Schiffe hier oben ziemliche Probleme haben. Es ist zu hoch, deshalb können sie nicht schnell fahren.«
»Das hält die Bebauung in Grenzen«, sagte Johnny. »Immer noch schön ruhig hier.«
»Uns gefällt es so«, sagte Merell.
Johnny bezeichnete das Seehaus immer als Cottage, und Roxanne hatte etwas Rustikales mit Holzveranda erwartet, wo außerhalb der Saison die Mäuse über die Rückseiten verhüllter Möbel tanzten. Tatsächlich war es jedoch ein elegantes zweistöckiges Gebäude mit dunkelbrauner Schindelfassade, einem steilen, spitz zulaufenden Dach und Fenstern mit mittelmeerblauen Fensterläden.
»Johnny hätte nicht so viel Geld ausgeben sollen«, sag te Simone, als sie durch das Eingangstor fuhren. »Aber ich bin so froh, dass wir es haben. Hier oben verkauft niemand seinen Besitz, vor allem nicht so ein großes Anwesen wie dieses. Johnny sagt, es ist mehr wert als Gold.«
Während die Männer den Wagen entluden, gingen die Schwestern und die Kinder um das Haus herum in Richtung des Sees. Hinter ihnen war das Geschrei von Baby Olivia zu hören.
»Franny kümmert sich um sie«, sagte Simone, die Hand ihrer Schwester ergreifend. »Ich habe Ferien. Ich möchte
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