Das Gewicht der Liebe
dass sie über sie klatschten. Als sie ver sucht hatte, sich deren San Diego-Leben jenseits des Salons vorzustellen, normale Leben mit Ehemännern und Kindern, war ihr immer nur die von einer Schusswunde herrührende lange, gekräuselte Narbe auf BJ s Schulter in den Sinn gekommen.
Manchmal vergaß Roxanne, dass es eine Zeit gegeben hatte, bevor bei Simone alles so schwierig geworden war. Sie bemühte sich, das Bild des niedlichen kleinen Mädchens heraufzubeschwören, das runde weiße Kiesel für einen Schneegarten sammelte und dann, als sie nicht genügend fand, jeden runden Stein, der ihr unterkam, mit Tipp-Ex aus BJ s Schreibtisch anmalte; die Dreijährige, die ihr Eis erst essen wollte, wenn es »warm« geworden war, die morgens in Roxannes Bett kletterte und ihr ins Ohr pfiff, um sie aufzuwecken.
Als Roxanne studierte, entführten Elizabeth und sie Simone eines Tages aus der Schule – dort schien sie ohnehin nicht viel zu lernen – und fuhren mit ihr in die Laguna Mountains, wo zwölf Zentimeter Schnee gefallen waren, was in dieser Gegend einem Blizzard gleichkam und gesperrte Straßen für alle Fahrzeuge zur Folge hatte, außer für Trucks, wie Elizabeth einen fuhr. Simone hatte noch nie Schnee gesehen und zappelte auf der Sitzbank zwischen ihnen herum, aufgeregt wie eine Fünfjährige, obwohl sie damals elf oder zwölf gewesen sein musste. Als Schlitten benutzten sie eine Radkappe, die Elizabeth irgendwo gefunden hatte. Auf der Rutschfahrt nach unten quietschte Simone so lange und so laut, dass sie sie in diesem Winter nur noch Ferkelchen nannten.
An Simones vierzehntem Geburtstag fuhren sie mit ihr nach LA , um sich dort eine Inszenierung von »Der König und ich« anzusehen, und anschließend bettelte ihnen Simone eine DVD des Films ab. Und da sie den Film ständig sehen wollte, lernte sie schließlich aus eigenem Antrieb heraus, den DVD -Player zu benutzen, den BJ und Ellen ihr im Jahr davor geschenkt hatten. Nach »Der König und ich« wollte sie jeden Film sehen, in dem gesprochen und gesungen wurde, und hatte bald die Lieder aller ihr bekannten Filme auswendig gelernt. Sie konnte sich zwar das Einmaleins nicht merken, aber dafür jeden einzelnen Song aus »Das Phantom der Oper« singen.
Simone war etwa zehn, und Roxanne ging zu der Zeit aufs College, als Ellen die psychische Störung ihrer jüngeren Tochter nicht länger ignorieren konnte. Eine Weile lang schleppte sie Simone zu allen möglichen Ärzten und Spezialisten, die im Grunde genommen alle mehr oder we niger dasselbe sagten. Simone hatte neurologisch bedingte Gleichgewichts- und Koordinationsstörungen sowie eine Borderline-Störung. In anderen Worten, ihre Intelligenz war unterdurchschnittlich. Später fügten die Ärzte ihren Diagnosen noch eine manisch-depressive Erkrankung hinzu.
Die Schule war eine Herausforderung für Simone. Sie benötigte Förderunterricht und zusätzlich Nachhilfeunter richt, lernte jedoch zur rechten Zeit zu schreiben und zu lesen und Zahlenkolonnen zu addieren. Trotz ihrer Wissenslücken ließen die Lehrer sie immer wieder aufrücken. Ellen und BJ hätten es anders auch nicht geduldet. Soweit Roxanne wusste, hatte ihre Schwester noch niemals ein Buch von Anfang bis Ende gelesen, obwohl sie Mode- und Klatschzeitschriften verschlang und Abonnements für min destens acht oder zehn Hefte hatte. Rezepte sowie jegliche Art von Anleitungen verwirrten sie. Wenn sie etwas nicht sofort konnte, wollte sie sich nicht die Zeit nehmen, es zu lernen. Niemand hatte irgendeine Vorstellung, was sie aus ihrem Leben machen würde, bis sie Johnny Duran kennenlernte.
Hinter Roxanne fiel die Fliegengittertür ins Schloss, und gleich darauf ertönte Tys Stimme aus dem winzigen Zimmer, das sie als gemeinsames Büro nutzten.
»Hey«, sagte er und überraschte sie, indem er sie an den Händen zu sich und auf seinen Schoß zog und sie küsste. Er saß am Computer. Auf dem Bildschirm waren Bilder von Fenstern zu sehen.
»Woran arbeitest du gerade?«
»Fensterlogistik.«
»Fenster… was?«
»Zusätzliche Fenster.«
Wie der überraschende Kuss war dies ein gutes Zeichen. Seit Chicago hatten sie aufgehört, über ihr Umbauprojekt zu reden.
»Wie findest du diese hier?« Er deutete auf den Bildschirm. »Sie öffnen sich nach außen, sind aus Vinyl und doppelt verglast mit Jalousien zwischen den Scheiben. Verdammt teuer, aber ich glaube, bei dieser Anschaffung dürfen wir nicht sparen. Andernfalls würden wir es später
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