Das Gewicht der Liebe
gehört«, erzählte Merell mit gesenkter Stimme. »An der Seite sind Einschusslöcher, und Daddy sagt, das macht den Wagen noch wertvoller. Oldtimer sind eine Investition.« Sie blickte unter ihrem fransigen Pony zu Roxanne auf. »Weißt du, was ›Investition‹ ist?«
»Erklär es mir.«
»Es ist eine Art Sparkonto, das immer weiter anwächst, obwohl du kein Geld mehr hineinsteckst. Daddy sagt, man sollte viele verschiedene Investitionen machen, falls es mit einer schiefgeht.«
Roxanne dachte an den Johnny, der sich die Zeit nahm, seiner neunjährigen Tochter etwas über Investment-Strate gien zu erzählen. Sie dachte an den Johnny, der mit seinen Kindern durch das Haus tobte. Und sie dachte an den Johnny des heutigen Nachmittags, den verächtlichen Mann, dem sie eine Ohrfeige gegeben hatte, weil ihre Schwester es nicht tat oder nicht konnte oder nicht wusste, dass sie diese Möglichkeit überhaupt hatte.
»Welcher ist dein Lieblingswagen, Merell?«
Merell schenkte ihr einen seltsamen Blick. Roxanne merkte ihren Fehler.
»Wie dumm von mir. Das hast du mir ja schon gesagt. Es ist der Studebaker.« Sie zauste Merell durch das Haar. »Verzeih mir, Zuckerschnecke. Es war ein langer Tag.«
Merell nickte verständig. »Du machst dir Sorgen, weil Mommy und Daddy einen Streit hatten, aber es ist okay. Sie vertragen sich jedes Mal wieder, wenn Mommy sagt, dass es ihr leidtut. Manchmal sagt Daddy, dass sie ver rückt ist, und bevor die Polizei hier war, hat Gramma Ellen gesagt, dass sie in ein Krankenhaus gehört. Aber wenn sie im Krankenhaus ist, wer kümmert sich dann um uns? Mommy hat Franny entlassen, und Daddy muss arbeiten, und Gramma Ellen mag uns nicht besonders.«
»Sie mag euch sehr. Sie kann das nur nicht gut zeigen.«
Merell zupfte an ihrem Pony, starrte auf ihre Füße hinunter. »Im Fernsehen habe ich eine Sendung über Kinder gesehen, die in ein Waisenhaus gehen müssen. Was ist, wenn uns das auch passiert?«
»Das wird nicht geschehen, Merell. Ich verspreche es dir.«
Roxanne nahm ihre Nichte in die Arme, fühlte unter den Händen den zerbrechlichen Kinderkörper. Wie so oft, wenn sie mit Kindern zu tun hatte, überfiel Roxanne ein schmerzhaftes Mitgefühl, ein Gefühl dafür, was es bedeutete, in der modernen Welt Kind zu sein. Ganz sicher war es in der Frühzeit der menschlichen Entwicklung brutal und gefährlich gewesen, ein Kind zu sein, aber zumindest waren die meisten Gefahren doch simpel und einfach zu begreifen gewesen: Hunger, Verletzungen, Krankheit. Ein Mädchen wie Merell wurde durch dieselben Dinge bedroht, doch die Palette an grauenhaften Möglichkeiten war weitaus größer: Drogen, Gangs, Mord, Vergewalti gung, Pandemien, atomare Vernichtung und Klimawandel – alles Szenarien, deren schaurige Details im Internet und Fernsehen frei zugänglich und grell aufbereitet waren. Kin der waren immer machtlos gewesen, aber nie so machtlos wie heutzutage, da sie, selbst wenn sie so intelligent wie Merell waren, nichts besaßen, womit sie sich zur Wehr setzen konnten.
»Ihr werdet nie in ein Waisenhaus kommen, Merell, das verspreche ich dir. Ihr seid von Menschen umgeben, die euch lieben. Dir und deinen Schwestern wird niemals etwas Böses geschehen.«
11
E llen hatte sich mit Dennis Dwight in der Bar des Mari posa Hotels im Zentrum von La Jolla verabredet. Sie wollte frühzeitig dort sein und sich vorab einen Drink genehmigen, um ihre Schulmädchennerven zu beruhigen.
Bevor sie BJ kannte, hatte Ellen dem Alkohol weitaus mehr zugesprochen als jetzt. BJ war in Bezug auf Alkohol von Natur aus gemäßigt gewesen. Er trank gerne mal ein, zwei Martinis vor dem Essen und maßvoll Wein und Bier, hatte jedoch keinen Hehl daraus gemacht, dass ihn betrunkene Frauen anwiderten. Eifrig darauf bedacht, ihm zu gefallen, hatte sich Ellen seinem Lebensstil angepasst, wie sie es seinerzeit auch bei Dale, ihrem ersten Mann, gemacht hatte. Inzwischen fiel es ihr schwer, sich an ihr früheres Selbst zu erinnern, an die Frau, die bis zur Besinnungslosigkeit getrunken hatte und die etwas so Schlimmes getan hatte, das sie sich bis zum heutigen Tag nicht hatte verzeihen können.
Aber heute Abend brauchte sie einen Drink, um ihre Nerven zu beruhigen. BJ würde wahrscheinlich sagen, mit ihren Nerven sei alles in bester Ordnung, doch ein gut aussehender, erfolgreicher Mann wie er hatte da gut reden. Eine sechzigjährige Frau hingegen bei einem ersten Date: Die brauchte starke Nerven. Oder eine Valium. In Ermanglung
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