Das Gewicht der Liebe
dessen würde es auch ein Martini tun. Verabredungen waren viel einfacher gewesen, als sie jung war und die Regeln kannte. Oder glaubte, sie zu kennen. Aber sie wusste nicht, ob es in der Welt des Cyberdating – Senioren -Cyberdating – einen bestimmten Verhaltenskodex gab, eine Liste mit Dingen, die man nicht erwähnen oder als gegeben annehmen durfte. Auf der Suche nach solch einem Leitfaden war sie sogar eigens in einen Buchladen gegangen. Aber als sie in den Regalen kein entsprechendes Buch gefunden hatte, war es ihr zu peinlich gewesen, eine Verkäuferin um Rat zu bitten.
»Wie werde ich Sie erkennen?«, hatte Dennis gestern Abend in seiner schleppenden Sprechweise gefragt, die so gut zu seiner schönen, tiefen Stimme passte. »Werden Sie sich in eine rote Rose kleiden?«
»Die werde ich zwischen die Zähne klemmen.« Spätabends, am Telefon, hatte sie sich mutig und in Flirtlaune gefühlt und ein paar sexy Takte aus »Carmen« vor sich hin gesummt.
Sie verglich die flaue Nervosität, die sie jetzt empfand – etwa wie vier Kaffee auf nüchternen Magen – mit der fiebrigen Erregung, als sie vor Jahrzehnten in L.A. aus dem Greyhound ausgestiegen war, ohne Job, ohne Wohnsitz und ohne einen einzigen Freund. Damals glaubte sie, die Welt zu kennen, weil sie mit Jungs aus der oberen Schulklasse herumgefummelt hatte, glaubte die Männer zu kennen, weil der Vater ihrer besten Freundin sich an sie herangemacht hatte. Sie vertraute darauf, dass ihr das Leben alles geben würde, wonach es sie verlangte, solange sie sich für alles öffnete, und manchmal war es so gewesen. Zu guter Letzt hatte sie sogar BJ gefunden, aber der Weg zu ihm war mit zahlreichen Irrtümern gepflastert gewesen. Die Er innerung an jeden einzelnen dieser Fehltritte begleitete sie auch jetzt, während sie auf dem Weg nach La Jolla war, um Dennis Dwight zu treffen.
Ellen hatte das Glück, einen Parkplatz in der Herschel Avenue zu finden, nicht weit vom Mariposa Hotel entfernt. Sie klappte die Sonnenblende herunter und musterte sich im Spiegel. War ihr Haar zu blond? War der Schnitt gut? Würde ihre Kinnpartie straffer aussehen, wenn ihre Haare kürzer wären? Sie nahm die rote Rose, die sie von dem Rosenbusch vor dem Haus abgeschnitten hatte. Die Rose hatte ihre Glanzzeit schon ein, zwei Tage hinter sich, würde dem Zweck jedoch genügen. In der Lobby des Mariposa sagte ihr ihre Vernunft, dass es dem Empfangschef und den Portiers völlig egal war, wenn sie hier mit einem Mann verabredet war, den sie nur vom Telefon kannte. Dennoch kam sie sich auffällig und ein wenig lächerlich vor, wie sie da mit der roten Rose in der Hand in ihren hochhackigen Designerschuhen von Torquemada durch die Lobby schwankte.
Ein blau gekachelter Bogen führte in die schmale Bar mit dem gedämpften Licht und dem schweren Teppich, den kleinen Tischen und den weich gepolsterten, mit Wildleder bespannten Sesseln. Keine Spiegel oder Nischen, kein vulgär zur Schau gestelltes Flaschensortiment. In der Bar des Mariposa wurde der Alkohol diskret hinter der Granit theke verborgen. An der Rückwand der Bar hing ein Trio vergrößerter Schmetterlingsfotos.
Ellen bestellte einen Wodka Martini, und als die Kellnerin ihn brachte, nahm sie sich vor, ihn langsam zu trinken. Mehrere Minuten lang blickte sie absichtlich nicht auf das Glas hinunter. Sie wünschte, sie hätte niemals mit dem Rauchen aufgehört, dachte an BJ , stellte sich vor, wie Dennis Dwight aussehen würde, überprüfte, ob sie Lippenstift auf den Zähnen hatte. Nur ein Schluck, dann könnte sie sich zurücklehnen und entspannen. Der Barbetrieb wurde lebhafter, und mehrere Männer und Frauen in Anzügen und modischer Sportkleidung kamen aus der Lobby herein. Ellen fühlte sich lachhaft overdressed in ihrem Vierhundert-Dollar-Seidenplisseekleid von Neiman Marcus.
»Ich erwarte jemanden«, erklärte sie der Kellnerin und wünschte im selben Atemzug, sie hätte das nicht gesagt.
Die junge Frau fragte: »Möchten Sie vielleicht eine Kleinigkeit zu essen?«
»Nein, danke. Wir wollen später essen gehen.«
Es kam ihr vor, als hätte sie gerade den ersten Schluck genommen, doch ihr Glas war leer. Sie konnte sich nicht entsinnen, ob es ihr zweites oder drittes war. Ihre Rose lag auf dem Tisch, die Blütenblätter schlaff. Einige Sekunden lang, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten, spielte sie mit dem Stiel ihres Glases, dünn wie ein Strohhalm, und bestellte dann einen neuen Drink. Sie konnte nicht einfach hier
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