Das Gewicht der Liebe
solltest ins Bett gehen.«
»Schick mich nicht weg! Hör einfach zu, was ich dir zu sagen habe. Ich habe dir nie viele Ratschläge gegeben, stimmt’s? Wenn ich es also tue, dann solltest du zuhören. Immerzu musst du alles bewerten, genau wie deine Großmutter.«
Wage es ja nicht, Gran zu kritisieren, dachte Roxanne. Am liebsten hätte sie ihre Mutter allein auf dieser Liege sitzen lassen, sich selbst bedauert. Gran hat mich gerettet. Du hast mich verlassen. Die Wunde war so frisch, als wäre alles erst gestern geschehen …
Es war dunkel, als sie bei Grans Farm ankamen. Roxanne erinnerte sich, wie sie aus dem Buick ausstieg und am Fuß der Verandastufen stehen blieb. Als sie hochblickte, schien die Frau auf der Veranda mit ihren kräftigen, muskulösen, vor der Brust verschränkten Armen im Licht der einzigen gelben Glühbirne ein riesenhaftes Wesen zu sein, ein Koloss.
»Was tust du hier, Ellen Rae? Du hättest vorher anrufen sollen. Du kannst nicht hereinplatzen und …«
»Nimm sie zu dir, Mom.« Ellen schubste Roxanne nach vorne, sodass sie gegen die erste Stufe stolperte, sich hin setzte und wimmernd ihr Schienbein rieb. »Ich komme mit ihr nicht zurecht.«
»Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du sie gekriegt hast.«
»Belehr mich nicht, sag nicht, das habe ich dir ja gleich gesagt. Sag nur ein einziges Mal einfach nichts. Ich bitte dich, Mutter. Du musst es tun.«
Die Erinnerung an diesen Tag erfüllte Roxannes Denken, dehnte sich aus, um auch das riesige, leere Haus mit aufzunehmen, die tausend Reihen von Obstbäumen, die wie stumme Zeugen Spalier standen, den vollen Mond … Sie entsann sich an dessen hellen Lichtschein, an Ellens ängstlichen und erschöpften Ausdruck, an das Flattern eines Nervs am Mundwinkel von Grans geschürzten Lippen. Jene Nacht ebenso wie die heutige Nacht: Es war etwas Seltsames an diesem übergroßen Mond, der warmen Nachtluft …
Ellen redete jetzt weiter, halb mit sich selbst. »Man will für seine Kinder klug sein und alles richtig machen, aber wenn man alles richtig gemacht hätte, würde man sie gar nicht haben. Gar nicht erst bekommen.« Sie blickte zu Roxanne und stieß einen manikürten Finger in ihre Richtung. Licht glitzerte in ihren schmalen Augen. »Du bist kein Kind mehr, Roxanne, also pass auf. Ich weiß, wovon ich spreche … Man hat keine Zeit … Du musst deine Schwester loslassen … Ich weiß, ich hätte dir die Verantwortung für sie nicht aufbürden dürfen … die ganze Zeit. BJ hat immer gesagt, es sei nicht fair …«
Soweit Roxanne wusste, hatte ihre Mutter noch niemals irgendeinen Fehler eingestanden oder sich bei irgendjemandem für irgendetwas entschuldigt. Und jetzt diese Reue: War sie echt oder betrunkenes Geschwätz? Sie könnte völlig weggetreten sein und sich morgen früh an nichts mehr erinnern. Hatte es überhaupt Sinn, ihr zuzuhören?
Elizabeth hatte die Theorie, dass Seelen sich vor der Geburt ihre Familien, vor allem ihre Mütter und Väter, danach aussuchen, was sie von ihnen lernen können. Welche karmische Lektion hatte Roxanne von Ellen zu lernen? Trink nicht, verlass dein Kind nicht? Führ ein geordnetes Leben, denn wenn du das nicht tust, wird alles auseinanderfallen und über dir zusammenbrechen?
»Komm, Mom. Es wird langsam kühl. Wir bringen dich jetzt ins Bett. Morgen früh wirst du dich besser fühlen.«
Ellen sah sie an, blinzelte. »Warum bist du hier? Immerzu bist du hier. Eines Tages … Habe ich das schon gesagt? Sie sterben immer, Roxanne. Sie sterben und sind weg und du bist allein.« Sie hob den Rock ihres Kleides und schluchzte in die befleckte Seide.
»Das reicht jetzt, du wirst dir dein Kleid ruinieren.«
»Red nicht in diesem Ton mit mir.« Ellen schob sich an Roxanne vorbei. »Ich bin kein Kind mehr, ich bin nie ein Kind gewesen.«
Da sind wir schon zu zweit .
Während Roxanne beobachtete, wie Ellen die Treppen zu ihrem Apartment über der Garage hinauftorkelte, erinnerte sie sich, dass es eine Zeit vor Gran und Simone gegeben hatte, als ihre Mutter jeden Abend betrunken war. Sie hatte ihre Mutter ins Bett gebracht, ihren Dreck weggeputzt.
Von der obersten Stufe aus schrie Ellen laut genug, um die Nachbarschaft aufzuwecken: »Irgendetwas stimmt nicht mit diesem gottverdammten Schlüssel.«
Ein Viereck aus bleichem goldenen Mondlicht fiel über den Teppich in Ellens Schlafzimmer. Roxanne zog die Zudecke zurück und half ihrer Mutter, sich hinzulegen. Es war etwas Seltsames an dieser Nacht
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