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Das Gewicht der Liebe

Das Gewicht der Liebe

Titel: Das Gewicht der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Campbell Drusilla
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herumsitzen, ohne ein Getränk vor sich zu haben.
    Mehr Leute strömten in die Bar, und nun waren alle Tische und Barhocker besetzt. Der Platz gegenüber von Ellen, auf dem Dennis Dwight sitzen sollte, irritierte sie wie ein zahnloses Grinsen. Sie trug keine Uhr, nahm aber an, dass sie bereits seit einer Dreiviertelstunde in der Bar saß. Verabredungen im Starbucks waren besser. In einem Café konnte sie während des Wartens Zeitung lesen. Und wenn sie ihren Kaffee austrank und ging, würde niemand wissen, dass man sie versetzt hatte.
    Ein großer Mann in einem grauen Anzug – teuer, wenn auch ein wenig zu eng und seit ein paar Jahren aus der Mode – stand im Eingang zur Mariposa Bar. Er sah sie, und sie war sich sicher, dass er sie sah. Er war im richtigen Alter und hatte seine beginnende Glatze sorgfältig überkämmt. Er war definitiv näher an siebzig als an fünfzig, doch sie verzieh ihm seine Lüge und hoffte gleichzeitig, er möge seinerseits ihrem kleinen Schwindel nicht so schnell auf die Spur kommen.
    Sie wusste nicht, ob sie wieder zu ihm hinsehen oder lieber so tun sollte, als wäre sie gerade von etwas anderem gefesselt. Die Schmetterlinge an der Rückwand der Bar – leuchtend türkis und schwarz mit goldenen Sprenkeln auf ihren riesig vergrößerten Flügeln – erinnerten sie an jene, die sie mit BJ im Regenwald von Costa Rica gesehen hatte. Er hatte sie Blumen mit Flügeln genannt.
    Sie blickte auf, nahm die Rose in die Hand, versuchte zu lächeln, aber der Mann war verschwunden.
    Der Nachthimmel über San Diego war sternenlos, das Licht einer Million Sonnen erstickt im grauen Dunstschein der Stadt. Im Osten stieg ein honigmelonengelber Mond hin ter einer Kulisse aus limonenduftenden Eukalyptusbäumen auf. Roxanne lag auf einer Liege auf der Terrasse, dachte über die heutige Unterhaltung mit Ty nach und fühlte sich so entspannt wie seit vielen Wochen nicht mehr. Sie döste ein, bis sie durch das Knallen einer Autotür hochschreckte. Auf ihre Uhr blickend, stellte sie fest, dass es für Johnny und Simone noch zu früh war. Einen Moment später kam ihre Mutter um das Haus herumgehumpelt, einen Schuh an, einen aus, und leise vor sich hin murmelnd.
    Eine warme, nach Zitrusfrüchten duftende Windbö hob Roxannes Haare im Nacken an.
    »Mom, alles in Ordnung?«
    »Dieses Kleid hat vierhundert Dollar gekostet, und ich habe Rotwein darübergeschüttet. Ich weiß nicht einmal, warum ich überhaupt Wein getrunken habe. Und diese Schuhe!« Sie warf die Schuhe über den Rand der Terrasse in die gelben Wandelröschen und ging weiter. Plötzlich blieb sie stehen und hob den Rock ihres Kleides hoch, der durch einen dunklen Fleck verfärbt war. »Vielleicht war es Scotch.« Sie sah Roxanne an. »Wäscht sich Scotch wieder raus?«
    Der Anblick ihrer betrunkenen Mutter löste bei Roxanne eine Flut von Emotionen aus, so alt, dass sie kaum mehr als Schatten waren, aufgestiegen aus den dunklen Kammern der Erinnerung.
    »Bist du etwa selbst gefahren?« Ihre Mutter nickte. »Mom, das hättest du nicht tun dürfen.«
    »Hör auf, mich zu gängeln.«
    »Wo warst du?«
    »Warum bist du überhaupt hier? Wo ist Franny?«
    »Simone hat sie gefeuert.«
    »Und du musst babysitten?« Ellen wirkte plötzlich betroffen. »Nein, nein, nein.« Noch vor einem Moment war sie starr vor Wut wegen eines abgebrochenen Absatzes und einem Fleck im Kleid gewesen. Jetzt war sie den Tränen nahe, gebrochen, ein einstürzendes Kartenhaus. »Du solltest zu Hause bei deinem Mann sein. Du weißt nicht, wie schnell, wie unerwartet …«
    »Mommy, was ist passiert?«
    »Wann?«
    »Heute Abend natürlich.«
    »Ach. Ich kann mich nicht erinnern.« Sie setzte sich auf den Rand der Liege. »Lass dir eines sagen, Roxanne, du darfst diese Zeit nicht vergeuden. Du bist jung und ihr liebt euch, das weiß ich, aber du betrachtest ihn als selbst verständlich, und eines Tages wird es dir leidtun. Du wirst an all die Sitzungen und Elternsprechtage und Notenkonferenzen denken, die du absitzen musstest, und dann wird er vor dir sterben, weil sie das immer tun, und du wirst jede Stunde ohne ihn bedauern …«
    In Roxannes Augen war Ellen immer unberührt von Selbstzweifeln und Bedauern durchs Leben gewandert. Doch heute Abend zeigte sich schmerzhaft deutlich, dass ihr Selbstvertrauen eine dünne, von Rissen durchzogene Muschelschale war. Roxanne wollte das alles nicht wissen. Sie wollte kein Mitleid für die Mutter empfinden, die sie verlassen hatte.
    »Du

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