Das Gewicht der Liebe
im Schatten einer Markise stand.
»Wo ist Franny?«, heulte Valli.
»Halt die Klappe, ich muss nachdenken.«
Nur mit einem weißen BH und Bikinihöschen bekleidet, lag Merells Mutter leise schnarchend auf dem Rücken. Sie wäre auch in wachem Zustand keine Hilfe, aber Merell war dennoch zu ihr gegangen, weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte. Gramma Ellen war, ohne sich zu verabschieden, irgendwo hingefahren und ging nicht an ihr Handy. Celia würde erst zurückkommen, wenn sie eine Menge Geld ausgegeben und mit ihrer Schwester Kaffee getrunken hätte. Daddy war in Las Vegas. Merell versuchte, Franny auf dem Handy zu erreichen, doch es klingelte und klingelte, und keine Stimme ertönte, die sie bat, nach dem Piepston eine Nachricht zu hinterlassen. Tante Roxanne hatte Merell am See ihre Handynummer gegeben und aus Angst, sie könne den Zettel verlieren, hatte Merell die Nummer auswendig gelernt. Sie sprach auf Tante Roxannes Handy eine Nachricht auf, bat sie, so schnell wie möglich zu kommen, da etwas Schreckliches passiert sei, und das sei kein Spaß. Sie wiederholte das zweimal.
Sie spielte mit dem Gedanken, wieder die 911 anzurufen. Die Polizei würde kommen, und diesmal könnte niemand mehr Mommy vor Schwierigkeiten bewahren. Das Geheimnis, das Merell in sich trug, wuchs riesig groß an. Die Polizei würde sie zwingen, es zu gestehen, und sie würde bestraft und ins Waisenhaus verbannt werden. Doch was immer mit ihr geschah, für ihre Mutter würde es noch viel schlimmer werden.
Auf Simones Nachttisch sah Merell ein braunes Tablettenfläschchen, das offen dalag. Sie schraubte den Verschluss auf und las das Etikett. Es war das einzige Wort, das Merell jemals gesehen hatte, das mit X begann und endete.
Simone seufzte und warf ihren linken Arm hoch. Merell starrte auf ihre Achsel, auf die stacheligen schwarzen Haare, die dort sprossen. Sie atmete den sauren Körpergeruch ihrer Mutter ein, abstoßend und anziehend zugleich. Von all den Identitäten ihrer Mutter – Mutter, Ehefrau, Frau – war es die Frau, die Merell faszinierte und ihren Kopf mit Fragen anfüllte. Sie wusste – obgleich sie es nicht wirklich glauben konnte –, dass auch sie eines Tages eine Frau sein würde, eine Frau mit Brüsten und mit Haaren an verborgenen Stellen. Doch woher sollte sie wissen, was es wirklich bedeutete, eine Frau zu sein, wenn ihr das niemand beibrachte? Sie liebte ihre Mutter, aber gleichzeitig tat sie ihr leid, weil sie begriff, dass ihre Mutter vom Frausein oder Muttersein genauso wenig Ahnung hatte wie sie selbst. Sie schämte sich für ihr Mitleid. Sie hatte viele Bücher über heranwachsende Mädchen gelesen, und keine der Heldinnen hatte jemals Mitleid mit der eigenen Mutter gehabt.
Ihre Mutter wusste nicht, wie man sich als Mutter verhielt, doch ihr Körper wusste trotzdem, wie er Babys bekam. Merell war im Internet gewesen und hatte das Foto eines Babykopfs gesehen, der aus einer roten und blutigen Wunde hervortauchte. Sie hasste diese Vorstellung, hasste das Wissen darüber, dass sie einstmals Teil des Körpers ihrer Mutter gewesen war und die Welt durch die geheime Stelle zwischen ihren Beinen betreten und ihrer Mutter unsagbare Schmerzen verursacht hatte. Sie legte die Hand auf den Bauch ihrer Mutter, fühlte, wie er sich mit jedem Atemzug hob und senkte: Sei ein Junge. Mommy wird dich lieb haben, wenn du ein Junge bist.
Unten wachten die Zwillinge über Olivia, die auf der Liege lag.
»Libia braucht ein Bad«, sagte Valli.
Ausnahmsweise bewies ihre kleine Schwester einmal Vernunft, und Merell wünschte, sie wäre selbst auf diese Idee gekommen. Vorsichtig hob sie ihre Baby-Schwester hoch und trug sie ins Haus. Im Haus war es kalt, aber Olivia verströmte eine feuchte, klebrige Hitze. Im Badezimmer, wo die Zwillinge vorher gespielt hatten, war alles voller Pfützen, und in der Wanne stand das Wasser etwa fünf Zentimeter hoch. Merell schlüpfte aus ihren Sandalen und stieg in die Wanne.
»Mommy wird schimpfen«, sagte Valli. »Du kannst nicht mit Kleidern in die Badewanne.«
»Ja, Mommy wird schimpfen.« Victoria stemmte die Hände in die Hüften.
Die Zwillinge plapperten, doch Merell ignorierte das nervtötende Geräusch, ließ sich mit Blick auf den Wasserhahn und Olivia zwischen ihren Beinen in der Wanne nieder. Sie drehte das kalte Wasser auf und träufelte mit der Hand behutsam Wasser über den Kopf und den Körper des Babys, bis es patschnass war. Olivia zuckte bei der Berührung des
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