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Das Gewicht der Liebe

Das Gewicht der Liebe

Titel: Das Gewicht der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Campbell Drusilla
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natürlich sehr aufgeregt. Wer wäre das nicht?«
    »Sie ist also allein mit den Kindern.«
    »Die Zugehfrau ist auch bei ihr.«
    »Sie sagten doch gerade, sie habe keine Hilfe gehabt.«
    »Hatte sie auch nicht. Zumindest früher am Tag.«
    Dr. Hamid schrieb etwas auf sein Klemmbrett.
    »Schauen Sie, das war eine Ermessensentscheidung von meiner Seite.« Tante Roxanne gab ihrer Stimme einen unverbindlich freundlichen Ausdruck. »Ich dachte einfach, sie sei im Moment besser zu Hause bei ihren Kindern aufgehoben.«
    Sie klang nicht wie sie selbst, wenn sie log. Zum Glück war Dr. Hamid ein Fremder, sonst hätte er gemerkt, dass sie nicht die reine Wahrheit sagte.
    Merell sagte: »Mein Daddy ist in Las Vegas.«
    »Geschäftlich«, sagte Roxanne.
    »Verstehe.« Nun tippte Dr. Hamid den Bleistift an die Seite seiner Nase. Merell wusste, dass er wegen Olivia besorgt war. »Ich möchte das Baby in einigen Tagen noch einmal sehen. Und zwar mit seiner Mutter.« Er zog sein Handy aus der Tasche und bewegte die Finger sogar noch schneller als Daddy über die Tasten. »Ich habe mir eine Notiz gemacht, dass ich bei der Kinderschutzbehörde einen Bericht einreichen werde, wenn ich Olivia und ihre Mutter nicht bis Montag nächster Woche hier gesehen habe.«
    Im Auto fragte Merell: »Was ist eine Kinderschutzbehörde?«
    Roxanne stellte ihren Rückspiegel ein. »Eine Behörde, die sich um Kinder kümmert.«
    »Wie Pflegekinder?«
    »So was und andere Dinge.«
    »Was für andere Dinge?« Merell wusste, dass ihre Tante keine Fragen beantworten wollte, aber trotzdem fragte sie weiter: »Was für andere Dinge?«
    »Ich weiß es nicht.« Tante Roxanne startete den Wagen und stieß aus der Parklücke zurück. Sie bog aus dem Parkplatz in die Torrey Pine Road ab. Rechts, zwischen den Bäumen, konnte Merell den schmalen Streifen des Meeres erkennen, ein dunkleres Blau als der Himmel. »Kinderfürsorge, nehme ich an. Missbrauch. Vernachlässigung.«
    »Werde ich Probleme kriegen?«
    Roxanne wandte für eine Sekunde den Blick von der Straße ab. »Du hast nichts falsch gemacht, Merell.«
    »Was ist mit Mommy? Wird sie Probleme kriegen?«
    »Sie wird Olivia in ein paar Tagen zur Nachuntersu chung bringen, und alles wird gut sein.«
    Merell wusste nicht, wie das bewerkstelligt werden sollte. Sie würde in der Schule sein, und da Franny weg war, würde niemand da sein, der sich um die Zwillinge kümmern könnte.
    »Glaubst du, Olivia wurde vernachlässigt?« Es war ein gewichtig klingendes Wort, das Merell noch nie benutzt hatte.
    Tante Roxanne bog in eine Seitenstraße ab. Sie parkte den Wagen und schaltete den Motor aus.
    »Was ist los? Warum parkst du hier?«
    Tante Roxanne stieß einen langen Seufzer aus und schloss für einen Moment die Augen.
    »Ja. Ich glaube, sie wurde vernachlässigt.«
    »Ich hätte sie nach drinnen bringen sollen, was?«
    »Nicht du hast sie vernachlässigt. Du hast dich verantwortungsvoll verhalten, und das ist großartig, weil es zeigt, wie klug und stark du bist. Aber du bist ein kleines Mädchen, und es sollte nicht deine Aufgabe sein, deine Schwestern zu beaufsichtigen.«
    »Du hast dem Arzt gesagt, dass Mommy aufgeregt ist, aber das ist sie gar nicht. Sie schläft. Du hast dem Arzt nicht von den XX-Tabletten erzählt.«
    Tante Roxanne schlug mit der Faust auf das Lenkrad.
    »Du hast gelogen.«
    »Es ist kompliziert, Merell.«
    Das war keine Antwort.
    Merell wollte nicht, dass Tante Roxanne wie all die anderen Erwachsenen war, dass sie Sachen sagte, die nicht wahr waren, oder Ausflüchte machte, die überhaupt nichts erklärten. Merell wollte wissen, warum Tante Roxanne Dr. Hamid nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte und warum Kinder nicht lügen durften, wenn doch Erwachsene die ganze Zeit logen. Es tat weh, über diese Fragen nachzudenken. Sie wünschte, sie könnte ihren Verstand abschalten wie einen Fernsehapparat oder die Doppelpfeil-Taste drücken und die guten Zeiten wiederholen und die schlechten im Schnelldurchlauf überspringen. Sie wäre gern wieder im Alter der Zwillinge, jene Zeit, als sie einfach nur machte, was man ihr sagte, ob die Vorschriften nun sinnvoll waren oder nicht. Damals hatte sie geglaubt, man müsse unbedingt ehrlich sein, und hatte sich nach Kräften bemüht, nicht zu lügen, selbst wenn sie sich dadurch oft Ärger einhandelte, weil sie zugab, dass sie die Zwillinge gehauen oder ihre Halloween-Süßigkeiten gegessen hatte. Daddy sagte, er vertraue ihr, weil er sich immer darauf

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