Das Gewicht der Liebe
Herren, ich möchte, dass Sie in den kommenden Tagen Ihr Gehör auf dieselbe Weise schärfen. Die Aussagen, die Sie hören werden, werden mehr Sinn ergeben, wenn Sie sich auf die Antwort auf eine ganz bestimmte Frage konzentrieren. Diese Frage ist der Schlüssel für diese Verhandlung und für Ihr Urteil. Wir wissen, dass Simone Duran versucht hat, ihren Kindern etwas anzutun. Das werde ich nicht in Abrede stellen. Doch die wichtigste Frage ist, warum ? Warum hat Simone Duran versucht, ihren Töchtern etwas anzutun?«
Er ging zum Anwaltstisch, setzte sich jedoch nicht hin. Vielmehr stellte er sich hinter Simone und sagte, seine Wor te sorgfältig betonend: » Warum hat sie es getan?«
Am nächsten Tag begann die Verteidigung die angekündigten Gutachter und Experten in den Zeugenstand zu rufen, einschließlich Dr. Omar, Olivias Kinderarzt, der die ungewöhnlich schwere Form von Olivias Säurereflux bezeugte und sagte, man könne im Grunde nichts dagegen tun, außer das Baby in den Arm zu nehmen, mit ihm herumzugehen und es zu lieben, bis es aus dieser Krankheit herauswachsen und mit dem Schreien aufhören würde. Im Kreuzverhör blieben alle psychiatrischen Gutachter bei der Überzeugung, dass Simone Duran zum Zeitpunkt des Mordversuchs an einer postpartalen Psychose gelitten habe und dadurch außerstande gewesen sei, richtig von falsch zu unterscheiden.
Als letzten Gutachter rief die Verteidigung Dr. Barbara Balch auf, eine würdevolle, großknochige Frau mit strahlend blauen Augen und weißem Haar, das zu einem or dentlichen Pagenkopf geschnitten war. Sie betrat den Zeugenstand mit souveräner Selbstsicherheit, stellte ihre Handtasche neben ihrem Stuhl auf dem Boden ab, strich ihren Rock glatt und blickte auf, bereit zu beginnen. Sie erzählte der Jury, sie sei ursprünglich Ärztin der Geburtshilfe gewesen, habe sich aber zur Psychiaterin weitergebildet und auf postpartale Syndrome spezialisiert, da sie als Geburtshelferin miterlebt habe, dass viele ihrer Patientinnen nach der Geburt ihrer sehnlichst erwarteten Kinder ganz und gar nicht im Glück schwelgten, sondern in tiefe Niedergeschlagenheit verfielen.
»Ich fand heraus, Mr. Cabot, dass viele, sehr viele Frauen die Mutterschaft so empfinden, als seien sie betrogen worden. Die Schwangerschaft an sich ist eine immense physische Herausforderung, doch immer von der Aussicht begleitet, dass nach dem Ende der neun Monate ein bezauberndes, niedliches Baby da sein wird, das für alle Strapazen entschädigt. Die Wahrheit, die nur selten ausgesprochen wird, ist jedoch, dass ein Neugeborenes in der Regel weder niedlich noch bezaubernd ist, es sei denn, es schläft, und selbst dann wacht es alle zwei Stunden hungrig und kreischend auf. Auch ein geordneter Haushalt wird komplett auf den Kopf gestellt. Und wofür? Für einen sieben Pfund schweren Tyrannen, der stundenlang schreit und seinen Eltern nicht mehr als ein, zwei Stunden Schlaf am Stück gönnt. Und mag es in einem Haushalt auch noch so gleichberechtigt zugehen, es ist die Mutter, die diese Tyrannei am stärksten zu spüren bekommt. Hormonell ist sie nach wie vor mit diesem Baby verbunden. Es schreit, und ihre Hormone schalten auf Alarmmodus.«
Die Geschworene, die Inhaberin eines Copyshops war, schien über Dr. Balchs Ausführungen insgeheim erheitert zu sein. Roxanne entsann sich aus der Vorvernehmung zur Eignungsfeststellung der Geschworenen, dass sie vier Kinder hatte, alle mittlerweile erwachsen.
Dr. Balch fuhr fort: »Die aufgezeichneten Schreie, die Sie für die Geschworenen eingespielt haben, waren das, was Simone, kurz seit sie mit Baby Olivia nach Hause gekommen war, jeden Tag und jede Nacht hörte. Und als wäre die Situation nicht schon schwierig genug, wurde sie wieder schwanger, als Olivia noch keine sechs Monate alt war. Viel zu früh.«
»Warum wurde die Situation durch die Schwangerschaft schwieriger?«, fragte Cabot.
»Sie und ich, wir beide hassen das Geräusch eines vor Schmerzen schreienden Kindes. Das ist die normale Reaktion, eine mentale und emotionale Reaktion. Für Simone war diese Reaktion auch körperlich, weil sie mit dem Baby nach wie vor chemisch verbunden war.«
Cabot bat sie zu erklären, was sie damit meine.
»Wie bereits angesprochen, erlebt eine schwangere Frau in ihrem gesamten Organismus hormonelle Veränderungen. Den meisten Menschen ist freilich nicht bewusst, dass alle wichtigen Organe – Herz, Leber, das gesamte innere lebenserhaltende System – ihre Position im
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