Das Gewicht des Himmels
Besuch vor anderthalb Jahren verändert – jetzt leuchteten sie tiefrot. Finch sah genauer hin und entdeckte, dass die Farbe direkt auf die Tapete aufgebracht worden war und an vielen Stellen schon wieder abblätterte. Überall standen Stühle herum und verwandelten das Zimmer in einen Hindernisparcours. Als seine Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten, sah er Thomas in einem Ohrensessel an der Ostwand sitzen. Er zerriss Tapetenreste und war von langen, spiralförmigen Papierstreifen umgeben. Seine Augen öffneten und schlossen sich langsam, so wie bei einer Comic-Eidechse. Gekleidet war er ganz in Schwarz, bis auf ein kariertes Halstuch in gedämpften Farben. Finch war zwar an sein Erscheinungsbild gewöhnt, im Moment aber ging es ihm gegen den Strich. Dieses Affektierte ärgerte ihn. Es war ja nicht kalt im Zimmer. Dicke Schwaden von Hitze und der Geruch von Schnaps und Schweiß zogen über ihn hinweg, als er sich nach einer Sitzgelegenheit umsah.
»Denny! Komm rein. Mach’s dir bequem, steh nicht in der Tür herum wie ein Staubsaugervertreter.« Thomas’ Augen verengten sich, und er lehnte sich in seinem Stuhl nach vorne, als wollte er sich von etwas überzeugen. »Du siehst nicht gut aus.«
»Mir geht’s aber gut. Könnte nicht besser sein. Leider kann ich nicht lange bleiben. Ich bin mit Lydia und meinem Schwiegersohn zum Abendessen verabredet. In irgend so einem Bistro, das sie kürzlich entdeckt haben.« Finch verabscheute Lügen, egal, ob sie von anderen oder von ihm selbst kamen. Aber jetzt empfand er nicht mal Reue dabei – er musste seinen Abgang schließlich frühzeitig vorbereiten. Er wählte einen der kleinen Sessel und bereute es sofort, als er sich darauf niederließ. Die Sprungfedern ächzten, und aus der Lehne stach ihn etwas in den Rücken.
»Wie geht’s deiner Tochter denn so?«
»Lydia geht es gut, danke. Aber sie macht so ein schreckliches Getue um mich. Ich fühle mich manchmal, als hätte ich einen Babysitter.« Da fiel ihm auf, wie illoyal er klang. »Nein, ich habe wirklich Glück, dass ich sie habe.«
»Das stimmt. Ich frage mich oft, ob die Menschen ihr Glück überhaupt erkennen können, bevor es zu spät ist.« Thomas lächelte Finch reuevoll an. »Entweder ist es zu spät, das Glück zu genießen, oder auch, daraus Kapital zu schlagen, eins von beiden.«
Thomas machte einen innerlich zerrissenen Eindruck, nestelte am Stoffbezug der Armlehnen herum. Finch wurde langsam nervös: Noch nie hatte er den Künstler so zerstreut und erschöpft gesehen.
»Sag mir die Wahrheit, Denny. Du hast mich um mein Alleinsein bestimmt manchmal beneidet. So, wie ich dir die Gesellschaft deiner Tochter geneidet habe. Und die Geborgenheit einer Familie. Stimmt’s?« Er winkte kaum wahrnehmbar mit der Hand und legte die Stirn in Falten. »Tja, was kann man da jetzt noch großartig tun?«
Hatte er sich Thomas’ einsames Leben je für sich selbst gewünscht? Finch versuchte, sich sein langjähriges Zuhause ohne die frühere Geschäftigkeit vorzustellen, ohne die Geräusche und Gerüche der Familie, ohne die alltäglichen Vorgänge, die irgendwann zu Ritualen wurden. Er dachte an seine Frau, wie sie nachmittags das Haar ihrer Tochter am Küchentisch gebürstet hatte; wie sie mit der flachen Hand der Bürste folgte, um einzelne Haare zu glätten, die den Borsten entkommen waren. Er dachte an seine dreiköpfige Familie, allesamt begeisterte Leser, die sich sonntagmorgens aufs Sofa kuschelten und sich in Bücher oder die Zeitung vertieften. Claire, wie sie neben ihm im Bett lag, ein süßes Komma, das sich an seinen Körper schmiegte. Lydia, wie sie ihn abends in seinem Arbeitszimmer besuchte, ihm über die Schulter schaute und Fragen zu seiner Arbeit stellte, mit jedem Wort ihren nach Zimt riechenden Atem verströmend. Das und noch so vieles mehr war sein Leben gewesen. Nicht ein einziges Mal hatte er sich das alles weggewünscht.
»Weißt du, Denny, je älter wir werden, desto mehr mag ich dich und desto weniger mag ich mich selbst.«
»Du klingst ja ganz rührselig. Ist der Gin alle?«
»Ich meine es ernst.«
»Mein lieber Freund, eben hast du bewiesen, was ich im mer vermutet habe: Die meisten erfolgreichen Künstler sind voller Selbsthass. Dass dir das jetzt auffällt, muss bedeuten, dass du vor einer sehr produktiven Schaffensphase stehst.«
Thomas lächelte schwach und schloss kurz die Augen. »Wir wissen doch beide, dass ich nie wieder etwas malen werde.« Er stand auf und ging zum
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