Das Gewicht des Himmels
hier war. Sie bestellte sich Frühstück aufs Zimmer und ließ sich ein Bad ein, in das sie den Inhalt einer Tüte Badezusatz schüttete. Ein Duft nach Zedern und Salbei stieg ihr in die Nase, als sie ihre Hände im warmen Wasser hin und her schwenkte. Die Reise hatte ihren Tribut gefordert; sie hatte anschließend kaum noch die Energie, sich anzuziehen. An einen Spaziergang durch die Stadt war überhaupt nicht zu denken.
Dann also Plan B. Wenn sie schon nicht laufen konnte, konnte sie wenigstens planen. Sie hüllte sich in den weiten Hotelbademantel und setzte sich mit einem Stadtplan, den sie aus der obersten Schreibtischschublade geholt hatte, und einem von Phinneaus’ Schreibblöcken vor den Kamin. Sie schrieb zuerst eine Einkaufsliste, obwohl sie sich damit um das Unvermeidliche – herauszufinden, wo sich Agnetes Adresse befand – drückte, suchte nach Geschäften in der Nähe des Hotels und ignorierte standhaft ihre unsichere Finanzlage. Sie tunkte eine Sopaipilla in ihren Kaffee und wischte sich den Puderzucker von den Lippen. Die gebratene Chili-Polenta mit Chorizo und Ei hatte sie schon aufgegessen. Es war vielleicht kein Urlaub, aber es fühlte sich an wie einer. Sie war allein, aß exotische Gerichte, beabsichtigte, Geld auszugeben, das sie vielleicht nicht besaß, und niemand schenkte ihr die geringste Aufmerksamkeit. Sie war ins Kaninchenloch gefallen und unsichtbar geworden.
Sich für Saisee etwas zu überlegen fiel ihr am leichtesten. Wie stolz Saisee auf ihre Kochkunst war, manifestierte sich in allem, was sie mit einer Prise von diesem und einer Messerspitze von jenem zusammenrührte. Alice hatte sogar einmal gesehen, wie sie Gewürze in der Hand zerdrückte und sie dann sachte über den Topf blies. Das hat mir meine Momma beigebracht. So kriegt man den Geschmack am besten überall gleichmäßig hin. Sie bekam weiße Maiskörner und blaues Maismehl, eine Auswahl von Chili-Gewürzen und piloncillo, kleine Kegel aus mexikanischem Rohrzucker, die sie vermutlich für Crème brûlée gebrauchen konnte. Frankie war auch nicht schwer, Alice hatte in der Hotellobby in einer Glasvitrine eine eindrucksvolle Fetischfigur in Gestalt einer Krötenechse entdeckt. Phinneaus würde unwillig mit der Zunge schnalzen, aber Frankie sollte unbedingt etwas bekommen, was nicht schon ein anderer besessen hatte, etwas Exotisches, Außergewöhnliches, das er mit seiner kraftvollen Kindermagie ausstatten konnte. Dazu schenkte sie ihm noch Eisenbahn-Spielzeug, das sie schon an der Union Station gekauft hatte, denn seine Erfahrung mit dem Zugfahren beschränkte sich auf diese tückische alte Mathematikaufgabe.
Damit blieb noch Phinneaus, und was sie ihm mitbringen wollte, ließ sich nicht so einfach einpacken. Wenn sie zaubern könnte, würde sie ihm diese neue, risikofreudigere Alice schenken, aber die verschwand womöglich wieder, bevor sie die Heimfahrt angetreten hatte. Ein Geschenk hatte sie allerdings schon für ihn. Es lag in Seidenpapier gewickelt zu Hause unter ihrem Bett – ihr altes Schulbuch mit den schön kolorierten Abbildungen: Die Vögel des Nordostens . Er würde wissen, dass es ihr viel bedeutete, wenn sie ihm ein Stück ihrer eigenen Geschichte schenkte, ein Stück der Person, die sie gewesen war, bevor er sie kennengelernt hatte. Und sicher würde ihn das Buch ebenso faszinieren wie sie – die verschiedenen Vogelarten in ihrer natürlichen Umgebung, deren Krallen sich um zarte Äste ringelten oder hinter Laubgewirr verborgen waren, leicht geneigte Köpfchen vor prallen Beeren oder interessiert Larven beäugend, die am unteren Rand der Seite ahnungslos durch zarte Grashalme krabbelten. Die akribisch genaue Zeichnung der einzelnen Federn: die festen und die biegsamen Bestandteile der Fahne, die Schwanzfedern mit ihrer raffinierten Zeichnung, die Tupfen, Punkte und Flecken, die sie lesen konnte wie einen Fingerabdruck. Die Abbildung der Nester mitsamt den Eiern, manche gefleckt, manche gesprenkelt, manche einfarbig und klein wie ein Fingernagel.
Aber da Phinneaus sie zu dieser Reise ermutigt hatte, gehörte es sich, ihm etwas mitzubringen. In einer der Zeitschriften auf dem Schreibtisch wurde ein einheimischer Künstler vorgestellt, und ein Foto zeigte ein Schneidebrett aus Alligator-Wacholder. Das in Rosentönen schimmernde Holz hatte eine schöne, dichtfaserige Textur. Das war vielleicht kein romantisches Souvenir, aber abgesehen von Phinneaus’ Ehrlichkeit bewunderte sie besonders seine Fein
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