Das Gewicht des Himmels
mit einem Kamin, mit Blick auf Garten oder Hof, aber nicht auf den Parkplatz. Rasch korrigierte sie sich. »Es ist sehr hübsch. Ich hatte nur noch keine Gelegenheit, mich an alles zu gewöhnen. Allein sein ist komisch. Ohne Natalie, ohne Saisee. Ohne dich.« Sie wartete, ob er etwas erwidern wollte, und als er schwieg, fuhr sie fort: »Es fühlt sich anders an, als ich erwartet habe, Phinneaus. Ich fühle mich anders.«
»Mir ist nicht ganz klar, ob du das positiv oder negativ meinst.«
»Ich meine, dass ich wünschte, du wärst hier. Nicht weil ich etwas brauche. Nur einfach so.« Es war ein grotesker Versuch. Sie hatte noch nie gut über ihre Gefühle reden können, weil sie zu sehr daran gewöhnt war, sie für sich zu behalten. Das hier war noch peinlicher, als wenn die Mitschüler früher auf dem Schulhof herausposaunten, dass man heimlich verliebt war.
»Wo bist du?«, fragte er.
»Ich sitze auf der Kante eines sehr breiten Bettes.«
»Mach dir nicht die Mühe, mit mir zu flirten, wenn ich zu weit weg bin, um was zu unternehmen. Gibt es eine Terrassentür?«
»Ich glaube ja.«
»Dann wirf dir eine Decke über und geh nach draußen. Erzähl mir, was du siehst.«
Sie stand auf und ging zur Verandatür. Am Nachmittag war es so warm gewesen, dass die kalte Nachtluft sie überraschte, aber sie machte auch den Kopf frei. Alice war schlagartig wach und hellauf begeistert.
»Phinneaus, es ist wunderschön hier.«
»Erzähl mir mehr.«
Die Veranda führte um das gesamte Gebäude herum. Auf den Bäumen im Innenhof blitzten weiße Lichter, und Gartensessel aus Holz waren um gemauerte Feuerstellen herumgruppiert, unter deren kupfernen Kappen bläuliche Flammen hervorzüngelten. Im hinteren Teil des Gartens stand ein einsamer Gitarrenspieler, der etwas Spanisches sang und sich leise dazu begleitete. Ab und zu rieb er sich die Hände. Seine Stimme tönte wie eine Glocke durch die Dunkelheit. Die Luft roch nach Harz, und als Alice um die Ecke zur anderen Seite der Terrasse ging, konnte sie die Sterne am Himmel sehen.
»Ich sehe den Kleinen Bären«, sagte sie. Ihr Atem bildete ein weißes Nebelwölkchen.
Sie hörte, wie am anderen Ende der Leitung eine Tür zuschlug und etwas laut krachte. »Mhm. Ich sehe auch den Kleinen Bären. Dann können wir nicht so weit voneinander weg sein.«
Sie lachte. »Phinneaus Lapine, bei dir regnet es. Ich bin nicht blöd, ich höre den Donner. Sei ehrlich. Du siehst überhaupt nichts, oder?«
»Wenn ich ehrlich bin – nein. Aber ich denke, die Sterne sind immer noch da, wo sie waren, als ich zum letzten Mal nach ihnen geschaut habe.«
In seiner Stimme schwang alles mit, was Heimat für sie bedeutete. Sie wusste, er würde versuchen, sie zu verstehen, selbst wenn er eine andere Entscheidung getroffen hätte als sie. »Ich weiß nicht, was passieren wird. Vielleicht weiß niemand, wo sie wohnt, und ich kann sie nicht finden.«
»Aber dann hast du es wenigstens versucht.«
»Glaubst du, das macht einen Unterschied?«
Er zögerte einen Moment. »Ja. Aber wichtiger ist, dass du es auch glaubst.«
Am Rand eines Abgrunds war es vollkommen logisch, einen Schritt zurückzutreten. Er jedoch wollte, dass sie sich im freien Fall hinunterstürzte und unterwegs noch die Aussicht genoss.
»Alice? Bist du noch da?«
»Hm. Bin ich.«
»Bleib nicht zu lange weg.«
»Du fehlst mir«, sagte sie rasch und legte auf, bevor er etwas erwidern konnte. Dann kuschelte sie sich in einen der Liegestühle auf der Terrasse und blickte in die Dunkelheit.
Sie schlief wie ein Stein, bis das Brummen eines Staubsaugers im Gang sie weckte. Noch vor dem Blick auf den Wecker wusste sie, dass sie verschlafen hatte. Schon fast Mittag. Sie hatte sich vorgenommen, möglichst früh mit dem Stadtplan in der Hand zu einer ersten Orientierung die Plaza zu umrunden, bevor sich Touristenpulks durch die Straßen schoben, die ihr den Weg versperrten. Sie stand auf und humpelte zum Fenster, verärgert über sich selbst, weil sie vergessen hatte, vor ihrem Freiluft-Telefonat mit Phinneaus Socken anzuziehen. Mit verzerrtem Gesicht zog sie den Vorhang zur Seite.
Im Garten herrschte rege Betriebsamkeit; Gärtner beschnitten Sträucher und pflanzten gestutzte Fichten in große Terrakotta-Kübel, um sie mit Lichterketten und kleinen roten Deko-Chilischoten zu behängen. Weihnachten. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht, aber nun würde sie für Phinneaus, Frankie und Saisee Geschenke kaufen können, wenn sie schon mal
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