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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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seine Haut eingegraben, bis sie aussah wie die eines Apfelpüppchens vom Kunsthandwerkermarkt. »Das stimmt. Ich könnte mich wohl als Fan von Audubon bezeichnen.«
    »Ah, Vögel. Welche Kunst ein Mensch mag, sagt viel über ihn aus. Sie sagen Audubon, und ich denke an jemanden mit einem Auge fürs Detail. Aber das ist zu simpel, oder? Davon lässt sich jemand wie Sie nicht beeindrucken.«
    »Jemand wie ich?«
    »Hm. Skeptisch.« Er musterte sie eindringlich, und sie war überrascht, dass sie das nicht störte, dass sie sich durch Mantel und Handschuhe, hässliche Schuhe und dicke Socken, den warmen Kaffeebecher und ihre Anonymität ausreichend geschützt fühlte.
    Er rieb sich das Kinn mit dem Handrücken. »Ich würde sagen, ein Mensch, der sich Audubon an die Wand hängt, glaubt an Gott, aber nicht unbedingt an Religion. An Willensfreiheit, aber auch an die Existenz einer natürlichen Hackordnung in allen Gesellschaften. Er kennt und akzeptiert sie. Ich würde sagen, einem solchen Menschen kann die Natur große Ehrfurcht einflößen, aber sie kann ihn ebenso sehr erschrecken. Der Verstand einer Wissenschaftlerin, die Seele einer Künstlerin. Wie mache ich mich?«
    Alice lächelte. »Bemerkenswert.«
    »Sie sind nicht beeindruckt. Dann muss ich mich wohl mehr anstrengen.«
    Sie hielt seinem aufmerksamen Blick stand, ohne etwas von ihrer Stacheligkeit zu offenbaren. Sie hatte wenig Übung, was Gespräche mit Fremden betraf, aber ihr gefiel der Gedanke, dass sie in jede beliebige Rolle schlüpfen und Identitäten anprobieren konnte wie Kleider, um herauszufinden, was passte: Geschäftsfrau, zu einem Meeting angereist, Operndirektorin, wohlhabende Sammlerin, Frau auf dem Weg zu einem heimlichen Rendezvous.
    »Hm.« Er betrachtete Alice mit zusammengekniffenen Augen. »Die Bewunderung gilt weniger dem Künstler als dem Motiv, habe ich recht? Warum gerade Vögel? Viele beneiden sie natürlich um ihre Fähigkeit zu fliegen, aber es muss mehr daran sein. Vielleicht geht es nicht so sehr um das Fliegen als solches, sondern um das Davonfliegen . Nicht wahr? Die Sorgen hinter sich lassen, frei sein von Begrenzungen, von Erwartungen.« Er seufzte. »Ehrlich gesagt, darum beneide ich sie.«
    War das der Grund? Sie hatte Vögel auch schon geliebt, als sie noch nicht durch ihre Invalidität an die Erde gefesselt war. Mit acht Jahren hatte sie in einer Truhe auf dem Dachboden ein Vogelbeobachtungsheft ihrer Großmutter gefunden und ihrem Vater davon erzählt. Daraufhin hatte er auf einem Regal hoch über ihrem Kopf in Schachteln gewühlt und ihr ein kleines Fernglas und ein paar Bestimmungsbücher gegeben.
    Ihren ersten Zitronenwaldsänger hatte sie mit neun gesehen, als sie allein auf einem Tupelobaumstumpf im Wald saß und nach Mücken schlug, die es auf die zarte Haut hinter ihren Ohren abgesehen hatten. Sie las gerade in ihrem Buch, doch als etwas Gelbes in ihren Augenwinkeln aufblitzte, blickte sie auf und tastete atemlos nach dem Notizbuch in ihrer Jackentasche. Angestrengt starrte sie auf die Stelle in der Weide, wo sie ihn vermutete. Dann bewegte ein Windstoß die Zweige, und da war er: Kopf und Bauch hellgelb, wie die Blütenblätter einer Sonnenblume, die Schwanzunterseite weißlich. Sein Schnabel war lang, spitz und schwarz, die Schulterblätter schimmerten olivgrün, die Flügel gräulich bis dunkelgrau. Die Augen blitzten wie schwarz glänzende Perlen in einem sonnenbeschienenen Feld. Er war das Vollkommenste, was sie je gesehen hatte. Als sie blinzelte, verschwand er, und der einzige Beweis, dass er je existiert hatte, war ein leises Erzittern der Zweige. Etwas Magisches hatte sich offenbart. Er hatte ihr gehört, wenn auch nur für ein paar Sekunden.
    Mit einem Bleistiftstummel – immer einen Bleistift mitnehmen, mit einem Bleistift kann man sogar im Regen schreiben, hatte die Großmutter notiert – hielt sie Datum und Zeit, Ort und Wetter fest. Sie zeichnete eine grobe Skizze und machte sich stichwortartige Notizen zur Färbung des Vogels. Dann war sie nach Hause gerannt, ohne auf das Brombeergestrüpp zu achten, das ihre Beine mit blutigen Kratzern überzog. In dem Bestimmungsbuch in der obersten Schublade fand sie ihn: Zitronenwaldsänger, protonotaria citrea, benannt nach den katholischen Protonotarii, die goldene Gewänder trugen. Es erschien ihr vollkommen einleuchtend, dass etwas so Schönes mit Gott in Verbindung stand.
    Danach war sie zahllose Tage durch den Wald gestro mert, das Minifernglas über der

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