Das Gewicht des Himmels
Kontrast zu der grellen Sonne im Freien. An den Wänden hingen mehrere indianische Kunstwerke, und in einer bogenförmigen Nische neben der Tür stand ein geschnitzter Navajo-Bär. Nachdem der Hotelpage ihr gesagt hatte, wo die Eismaschine war und wie sie das Gas für das runde Öfchen in der Ecke anstellen konnte, zog er sich zurück, und sie kroch, ohne sich auszuziehen, in das große Bett und zog sich die grobwollene Decke bis über die Schultern. Irgendetwas war merkwürdig an diesem Zimmer. Sie konnte es sich nicht recht erklären, bis sie sich noch einmal in Ruhe umsah und ihr zu Bewusstsein kam, was fehlte: Sie war allein.
Seit dem Tag ihrer Ankunft in Tennessee war sie nicht mehr allein gewesen. Zuerst waren immer Natalie oder Saisee in der Nähe gewesen und dann später Phinneaus und häufig Frankie. Sie hatte den größten Teil ihres Lebens in der Gesellschaft von Menschen verbracht, die sich um sie kümmerten. Sosehr sie sich auch um Autonomie bemüht hatte, war sie doch immer zu einem gewissen Maß von der Hilfsbereitschaft anderer abhängig gewesen. Könntest du mir helfen, das hochzuheben? Könntest du das aufmachen? Würdest du mir bitte die Tür aufhalten, meinen Mantel halten, meine Bücher tragen? Das Alleinsein hatte eine ähnliche Qualität wie ein Aufenthalt am Nordpol: Es war kalt und erhellend. Die Stille vibrierte regelrecht ohne den ständigen hilfreichen Dialog, an den sie sich gewöhnt hatte.
Was konnte schlimmstenfalls passieren? Sie hatte ihren Körper untersucht, festgestellt, dass hier und da etwas empfindlich war oder sich heiß anfühlte und ihre Arme und Beine bleischwer auf dem Bett lagen. Sie traf diese Feststellung ohne große Gefühlsregung, als sähe sie sich von einem entfernten Planeten aus, der um sie herum seine Bahn zog. Ich könnte sterben . Das erschien ihr unwahrscheinlich und melodramatisch, nachdem sie sich in einem bequemen Hotelzimmer mit einem Telefon in Reichweite befand. Aber es war eine Erleichterung, diesen Gedanken ohne die üblichen Schuldgefühle denken zu können. Zu Hause wäre es eine Sünde gewesen, so zu denken, und wenn ihr Körper sich auch noch so unsolidarisch verhielt. Dort flatterten ständig Menschen um sie herum, die ihre Zeit für sie opferten, deren Fürsorge gehörte zu dem täglichen Ritual, das ihr zuliebe veranstaltet wurde. Hier jedoch, umgeben von Mystik und Verzauberung, erschreckte sie die Vorstellung, dass sie eines Tages die Halteseile zu dieser Erde kappen würde, nicht mehr so sehr.
Aus dem CD-Player auf ihrem Nachttisch erklang eine ätherische Kombination aus Flöte, Didgeridoo, Chanten und Trommeln, die wie Regenstäbe und Rasseln klangen. Sie lullten sie ein, bis sie im Traum abhob und flog. Im Einschlafen glaubte sie mehrfach, das helle Geheul eines Wolfs oder Koyoten zu hören, und wusste nicht, ob sie in Tennessee war und von New Mexico träumte oder umgekehrt. Das Bett war der einzige Ort, der ihr nicht fremd vorkam, und sie ergriff eine Ecke des Lakens und verankerte sich daran.
Sie erwachte in einem dunklen Zimmer und war desorientiert. Sie wusste nicht, wo sie war, und tastete ungeschickt nach ihrem Wasserglas, ihrem vertrauten Wecker; ihre Füße waren wie von selbst vom Bett geglitten und suchten nach den Pantoffeln. Erst als sie sich das Schienbein am Tisch angestoßen hatte, fiel es ihr wieder ein, und sie streckte die Hand in Richtung Lampe aus. Neun Uhr. Und sie hatte Phinneaus nicht angerufen. Sie wählte seine Nummer, froh, dass die Zeitdifferenz zwischen ihnen nur eine Stunde betrug. Als er abnahm, klang seine Stimme unnatürlich, und die Distanz zwischen ihnen schien sich beim Reden noch auszudehnen.
»Ich bin eingeschlafen.«
»Ich habe angerufen. Hast du dein Telefon abgestellt?«
»Muss ich wohl.«
»Und das Nicht-Stören-Schild an die Tür gehängt? Keiner wollte mich zu deinem Zimmer durchstellen.«
Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie irgendetwas an die Tür gehängt hatte. Eigentlich erinnerte sie sich so gut wie gar nicht an ihre Ankunft, nur dass sie dieses Zimmer bezogen hatte, das nun im Schein der Nachttischlampe fremd und riesig wirkte, von merkwürdigen Schatten an der Wand bevölkert. Aus dem Garten wehte Musik herauf.
»Wie ist dein Zimmer?«
»Wie zu erwarten.« Dann fiel ihr ein, wie sorgfältig er die Reservierung erledigt hatte – nicht direkt neben dem Lift, aber auch nicht zu weit weg, auf einem der unteren Stockwerke, aber nicht im Erdgeschoss, ein Eckzimmer, wenn möglich
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