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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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stehen können: Shoppingcenter und Tankstellen, ein weiß gekalktes Labyrinth aus Lagerhallen, ein Gebrauchtwagenhändler, das mit Brettern zugenagelte Skelett eines Pancake-Restaurants, dazwischen das eintönige Gelände zu beiden Seiten des Bahndamms. Doch zwischen La Junta und Trinidad wechselte die Szenerie. In der Ferne tauchten die Mesas auf, eine gezackte Bergkette und tischebene Plateaus. Nach dem langsamen Aufstieg zum Raton Pass gelangten sie in eine andere Welt. Erst fuhr der Zug auf Glorieta zu, dann hinunter in den Apache Canyon, dessen Wände überraschend eng zusammenstanden. Alice lehnte sich zurück. Der Zug fuhr zu schnell, als dass sie Einzelheiten erkannt hätte – abgesehen von den Fichten, die an den felsigen Abhängen wuchsen. Aber sie wusste aus der Erinnerung, dass es hier endemische Vogelarten gab. Sie hatte die Farbtafeln in ihren Schulbüchern noch vor Augen – den Großen Rennkuckuck mit seiner fransigen Scheitelhaube, die gelben Augen der Kaninchen-Eule, das schwarz glänzende Federkleid des Trauerseidenschnäppers, der täglich Hunderte von Mistelbeeren verspeiste.
    Das Kranichfest hatte sie um wenige Wochen verpasst. Bosque del Apache und der Rio Grande lagen nur wenige Stunden entfernt. Welch ein verlockender Gedanke! Sie stellte sich vor, wie sie auf dem Bauch lag, das Fernglas auf die Kanada-Kraniche und Schneegänse in ihren Winter quartieren gerichtet, und staunend ihren massenhaften mor gendlichen Abflug und die abendliche Rückkehr beobachtete. Das war ein alter Wunschtraum, und obwohl sie wusste, dass er sich unmöglich verwirklichen ließ, hielt er sich hartnäckig: die Welt als ein einziges riesiges Vogelhaus, all seine gefiederten Bewohner in ihrem natürlichen Habitat. Es wäre tausendmal schöner, wenn sie ihre Rufe vom grünen Dschungeldickicht gedämpft oder als Widerhall von Canyonwänden hören könnte statt als abgehackte Tonbandaufnahmen auf einem CD-Player. Solchen Gedanken nachzuhängen war unendlich viel leichter, als über ihre Tochter nachzudenken und über die Tatsache, dass die Lok sie mit jeder S-Kurve, jeder Meilen-Markierung Agnete näher brachte.
    In Lamy hob ihr der Schaffner das Gepäck herunter und half ihr aus dem Zug. Dann zeigte er ihr den Weg zur Bushaltestelle. Als der Zug abgefahren war, wirkte Lamy wie eine Geisterstadt, und obwohl die Luft klar und der Himmel von einem hellen Jeansblau war, empfand sie Erleich terung, als kurz darauf der Shuttlebus kam. Sie war der einzige Passagier, und die freundliche junge Busfahrerin er kundigte sich eifrig nach ihren Plänen, empfahl Restaurants und wies auf Kunstgalerien hin.
    »Interessieren Sie sich für indianische Kunst? Zeitgenössische hispanische? Fotografie? Moderne amerikanische?« Sie ratterte noch ein paar Optionen herunter, aber Alice hörte nicht mehr zu, sondern ließ hinter dem getönten Fenster die Landschaft an sich vorbeiziehen, die Arroyos, die geisterhaften Espenskelette zwischen den Fichten, die Gebirgskette des Sangre de Cristos. Die junge Frau trug ein geblümtes Westernhemd, und ihr dicker blauschwarzer Zopf wippte, wenn der Bus holperte. Rumpelte. Wippte. Alices Gelenke rebellierten, aber die junge Frau zwitscherte gnadenlos fröhlich weiter, fast hypnotisch in ihrer Munterkeit. Zum ersten Mal seit ihrer Abreise dachte Alice an Thomas und wie seltsam es war, dass Agnete ausgerechnet hier gelandet war, in einer Stadt mit ebenso vielen Kunstgalerien wie Restaurants. Ihre Hände zitterten. Wie hatte sie sich das nur zutrauen können?
    »Ich bleibe nur kurz. Wahrscheinlich werde ich versuchen, ein bisschen von allem zu sehen.«
    »Das ist eine gute Idee, wenn Sie zum ersten Mal hier sind. Wahrscheinlich wollen Sie es heute sowieso ruhig angehen lassen, damit sich Ihr Körper der Höhe anpassen kann. Sie kann mörderische Kopfschmerzen auslösen, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Übrigens« – die Frau fischte eine Visitenkarte aus dem Aschenbecher und reichte sie über die Schulter nach hinten – »ich massiere auch, wenn Sie das interessiert. Shiatsu, Thai, Heißer Stein, Craniosacral. Das volle Programm.«
    »Ich merke es mir«, sagte Alice, während sie die Visitenkarte heimlich in den Spalt zwischen den Sitzen schob.
    Das Hotelzimmer roch nach Nusskiefer. Die Lehmwände waren graubraun, die Möbel in dunklen Farbtönen gehalten: ein backsteinrotes Sofa mit kakaofarbenen Kissen, ein Bettüberwurf mit Navajo-Muster und zwei schokoladenbraune Ledersessel, alles ein willkommener

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