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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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fühligkeit, und sie wusste, dass er für meisterliche Handwerkskunst etwas übrighatte.
    Als die Liste fertig war, legte sie sie zur Seite und griff wieder nach dem Stadtplan. Der Gedanke an Agnete überfiel sie mit voller Wucht. Sie sah sich vor der Tür des Hauses stehen, in dem ihre Tochter gewohnt hatte, während sie selbst in Tennessee war, und ihr wurde mulmig. Die Adresse auf dem zurückgesandten Umschlag lag im Osten der Stadt, in der Calle Santa Isabel. Auf der Karte war sie nur ein kleiner Strich, genauso lang und breit wie viele andere. Aber Alice wollte mehr als eine dunkelgraue Linie auf der Karte. Sie wollte eine Lebensgeschichte.
    Das ungeheure Ausmaß all dessen, was sie versäumt hatte, überwältigte sie schier. War ihre Tochter in der Calle Santa Isabel glücklich gewesen? Der Name klang fröhlich, aber Namen konnten täuschen. Hatte sie Bäume gehabt, auf die sie klettern konnte, Nachbarskinder zum Spielen? Hatte sie ihre Haustür an Weihnachten mit den Chili-Pepper-Lichterketten dekoriert, die es hier überall gab? War sie zu Fuß in die Schule gelaufen oder mit dem Bus gefahren? Und hatte sie auf dem Heimweg ein zerknülltes Blatt Zeichenpapier umklammert, auf das sie mit kräftigen Buntstiftstrichen Truthähne, Kürbisse und Schirme gemalt hatte? Oder Schneeflocken aus Seidenpapier? Würde Alice vor diesem fremden Haus in dem Staub stehen, der von den Füßen ihrer Tochter aufgewirbelt worden war?
    Das Herumsitzen und Grübeln machte sie nervös. Ein kurzer Spaziergang um den Block, bei dem sie sich einen ersten Eindruck von ihrer Umgebung verschaffte, war vermutlich zu schaffen. Sie schluckte eine Handvoll Tabletten und zog ihre Kleider zu sich heran, dankbar, dass Saisee ihr warme Sachen eingepackt hatte, die sich leicht an- und ausziehen ließen. Draußen war es blendend hell, und der Himmel leuchtete in demselben glasklaren Blau wie am Vortag. Es war warm, und die Gehwege waren belebt, aber nicht überfüllt. Sie kam an einem kleinen Café vorbei und blieb vor der offenen Tür stehen, um den Duft von Kaffee und Zimt einzuatmen, dann ging sie bis zur nächsten Kreuzung weiter und warf unterwegs ab und zu einen Blick in das Schaufenster einer Galerie.
    Hinter der nächsten Häuserecke entdeckte sie auf der linken Seite eine Bank, die vor der Galerie stand, und setzte sich schräg darauf, um beim Ausruhen einen Blick in den Innenraum werfen zu können. In der Galerie redete ein großer Mann mit Pferdeschwanz – er musste bestimmt den Kopf einziehen, wenn er den Laden betrat – lebhaft gestikulierend auf ein junges Paar ein, das ein Landschaftsgemälde an der hinteren Wand betrachtete. Er trug ein schwarzes Jackett und einen auffällig großen Türkisring, der ihm fast vom Finger rutschte. An der Art, wie die junge Frau lächelte und nickte, erkannte Alice, dass ihr Interesse nachgelassen hatte; sie nickte seltener und warf ihrem Part ner immer häufiger Seitenblicke zu. Vielleicht waren sie aus einer Laune heraus in den Laden spaziert und aus reiner Höflichkeit geblieben. Alice hatte das nie verstanden – wieso kaufte man auf Reisen Kunst? Fühlte man sich von einem Werk spontan angesprochen? Von einem Motiv oder der Farbwahl? Diese beiden wirkten so, als würden sie diesen Kauf bald bereuen. Doch dann verließ das Paar den La den und entfernte sich raschen Schrittes Arm in Arm, so als wollten sie sich gegenseitig den Fängen des Galeriebesitzers entreißen. Der Mann mit dem Pferdeschwanz bemerkte Alices Blick und lächelte achselzuckend. Kurz darauf stand er leicht gebeugt mit zwei Bechern Kaffee in der Tür.
    »Wieder ein herrlicher Tag im Paradies!« Er gab ihr einen der Becher. Er bestand aus Styropor und war leicht zu halten. Die Wärme drang wohltuend durch ihre Fäustlinge. Erneut stieg ihr der Zimtgeruch in die Nase und noch etwas Würzigeres, das sie auch vor dem Café gerochen hatte.
    »Tut mir leid, dass es mit dem Verkauf nicht geklappt hat«, sagte sie.
    »Beim nächsten Mal. Das ist immer so.« Er hob eine Augenbraue. »Sie möchten nicht zufällig …«
    »Oh, nein. An mich wäre das verschwendet.«
    »Wollen Sie mir erzählen, dass Sie Kunst nicht mögen? Das glaube ich Ihnen nicht. Jeder mag Kunst. Sie müssen nur das Werk finden, das Sie anspricht.«
    Aus der Nähe sah sie, dass sein Gesicht von unzähligen feinen Linien überzogen war. Vermutlich hatte er die meiste Zeit seines Lebens hier in dieser dünnen Luft verbracht, und die Sonne und die Wüste hatten sich in

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