Das Gewicht des Himmels
Schulter, den graubraunen Rucksack gefüllt mit halb zerkrümelten Crackern, Saftflaschen, bräunlichen Äpfeln und krummen Schokoriegeln. Sie hatte sich selbst beigebracht, wie man geduldig wartete und die Langeweile bezwang, die bei einer längeren Beobachtung häufig aufkam. Sie hatte gelernt, wie man nach etwas Ausschau hielt, was nicht gesehen werden wollte.
Alice stellte den leeren Kaffeebecher auf der Armlehne ab. »Vielleicht haben Sie recht.«
Er lächelte selbstzufrieden und nickte. »Wie gesagt. Es gibt für jeden ein passendes Kunstwerk.«
Ihre nächste Frage überraschte sie selbst. War er ihr durch die Beschäftigung mit Agnete neuerdings wieder näher? »Was wissen Sie über Thomas Bayber?«
»Bayber? Ich weiß, dass ich nicht mehr arbeiten müsste, wenn ich etwas von ihm im Angebot hätte. Doch so wohlgefüllt ist meine Brieftasche nicht, und außerdem ist von ihm nichts mehr auf dem Markt. Seine Gemälde hängen alle in Museen, abgesehen von ein paar Werken in Privatsammlungen. New York oder Miami vermutlich. Vielleicht Japan.« Der Galerist schien sich über Alices Frage zu wundern. »Ich hätte Sie nicht für eine ersthafte Sammlerin gehalten. Und Sie wollten mir weismachen, dass Sie sich nie besonders für Kunst interessiert haben!«
»Ich bin weniger ernsthaft als neugierig. Und den Namen kenne ich eben. Über den Künstler weiß ich kaum etwas. Er ist also talentiert.«
»Das war er. Und das ist noch untertrieben.«
Eine dumpfe Woge wälzte sich über sie hinweg, und sie schloss die Augen und ballte die Fäuste in den Handschuhen, damit der vertraute, stechende Schmerz in den Fingern die neue Qual auslöschte. Diese Möglichkeit war ihr nie in den Sinn gekommen. Ihr Thomas war immer noch Mitte dreißig, arrogant und rastlos. Inzwischen müsste er Anfang siebzig sein.
»Wann?«
»Wann was? Ach so, nein, ich glaube nicht, dass er gestorben ist. Aber er malt seit zwanzig Jahren nicht mehr. Ist völlig abgetaucht. Ziemlich mysteriöse Sache, denn bis dahin war er ganz schön produktiv. Ah, jetzt verstehe ich! Deshalb haben Sie nach ihm gefragt – wegen der Vögel! Sie haben mich nur auf die Probe gestellt, stimmt’s? Nicht, dass ich was dagegen hätte. Sie wollen sich nicht mit einem unerfahrenen oder uninformierten Kunsthändler abgeben. Sie verstehen Ihr Handwerk.«
Jetzt war sie verwirrt. »Ich verstehe nicht recht …«
»Warten Sie. Ich bin gleich zurück.« Er lief in die Galerie, und als sie durch das Fenster hineinschaute, sah sie ihn einen Stapel großformatiger Bücher umschichten, Seiten umblättern und unter dem Schreibtisch herumtasten. Als er wiederkam, klemmte ein Band mit dem Titel The Art of Thomas Bayber von Dennis Finch unter seinem Arm. Er setzte sich neben Alice, legte das Buch auf die Bank und blätterte darin, bis er in der Mitte die Seiten mit den farbigen Abbildungen gefunden hatte. Den Text dazu las er ihr vor.
1972 durchlief Baybers Werk eine weitere Metamorphose, entzog sich jedoch jeder Definition oder der Zuordnung zu einem bestimmten Stil. Elemente des abstrakten Expressionismus, der klassischen Moderne, des Surrealismus und des Neoexpressionismus verbinden sich mit gegenständlicher Kunst zu vollkommen eigenständigen und höchst komplexen Werken, die auf einer unbewussten Ebene sowohl begeistern als auch erschrecken. An ihnen ist nichts Zerbrechliches, nichts Verträumtes. Sie bieten keinen Schutz, weder dem Künstler selbst noch dem Betrachter seiner Werke. Alles ist in einem Zustand der Rohheit, menschliche Werte auf der Leinwand erscheinen abgemildert und zugespitzt. Zwar tauchen in diesen Werken bestimmte Motive auf – oft eine Andeutung von Wasser, die Figur eines Vogels –, und manche Elemente wiederholen sich, doch abgesehen von einer introvertierten Komplexität ist der Kontext, in dem sie erscheinen, in keinem Bild derselbe. Was diese Werke verbindet, ist eine Atmosphäre des Verlusts, des Entschwindens und der Sehnsucht (siehe Abb. 87-95).
»1972. Fünfzehn Jahre danach hat er aufgehört zu malen. Sehen Sie den Vogel da in der Ecke? Sie sind nicht immer leicht zu finden. In der blauen Farbfläche.«
Sie musste die Jahreszahl nicht noch einmal hören, um den Grund für Thomas’ Verwandlung zu erraten. Und sie musste sich die Reproduktion des Gemäldes nicht ansehen, um den Vogel zu erkennen. Was habe ich getan, Thomas? Was habe ich getan?
»Ein Azurbischof«, sagte sie.
»Ich kenne mich mit Vögeln nicht so gut aus wie Sie, deshalb
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