Das Gewicht des Himmels
versagten. Gut, dann sollte Stephen eben die Führung übernehmen. Er hatte es geschafft, die Sache gründlich zu vermasseln. Ich wasche meine Hände in Unschuld, dachte Finch, der es leid war, immer die Stimme der Vernunft zu sein. Soll doch ein anderer die Verantwortung tragen. Er ließ sich auf die bequemen Sofakissen sinken und wehrte sich nur, als Stephen ihm die Schuhe ausziehen wollte. Auf keinen Fall sollten fremde Leute seine Socken zu Gesicht bekommen. Trug er überhaupt Socken? Ihm war so kalt, dass er unterhalb der Knie kaum noch etwas spürte und sich nicht mehr daran erinnerte, was er im Hotelzimmer angezogen hatte. Er merkte nur noch, dass sein Herz wie wild hämmerte und seine Zähne im Takt dazu klapperten.
Saisee brachte Tee und goss ihm eine Tasse ein. Sie achtete darauf, sie so nahe an den Tischrand zu stellen, dass er sie bequem im Liegen erreichen konnte. Als er sie an die Lippen hob, stieg ihm eine Wolke aus Zimt, Nelken, Tee und Orange in die Nase. Er schloss die Augen und atmete tief ein.
»Ist das russischer Tee? Den habe ich seit Jahren nicht mehr getrunken. Meine Frau hat ihn immer für mich gekocht, wenn ich ein Kratzen im Hals hatte und nicht mehr sprechen konnte. Zu viele Vorträge, habe ich ihr erklärt. Zu langatmig, hat sie dann immer geantwortet.«
Saisee nickte zufrieden.
Er trank einen großen Schluck. Der Tee war ein Lebenselixier, das ihm in die Kehle rann, seinen Kopf beruhigte, seine Gliedmaßen auftaute. »Danke. Ich muss mich entschuldigen. Es ist mir sehr …«
»Unangenehm«, ergänzte Stephen.
Finchs Energie war begrenzt, und er beschloss, sie nicht an einen Rüffel zu verschwenden. »So könnte man es ausdrücken. Miss … ich kenne leider Ihren Nachnamen nicht.«
»Saisee genügt.«
»Saisee. Mr. Lapine. Ich bin Ihnen für Ihre Gastfreundschaft dankbar, zumal wir uns Ihnen zu einer so späten Stunde unangekündigt aufgedrängt haben. Und ich mich quasi als unzurechnungsfähig bezeichnen muss. Ich möchte Ihnen versichern, dass wir Sie nicht stören oder irgendwelche Unannehmlichkeiten verursachen wollten. Alice Kessler ist nicht hier?«
Phinneaus nickte.
»Und Sie beide sind Freunde der Kesslers?«
Da Phinneaus’ Neffe hier anscheinend ein und aus ging und Saisee Phinneaus als Verstärkung gerufen hatte, hatte dieser offenbar eine Beziehung zu einer der Schwestern gehabt oder hatte sie noch. Der Mann ging zwar mit seinen Informationen ziemlich sparsam um, aber er wusste sicher mehr, als er zugab – davon war Finch überzeugt.
»Weder ich selbst noch Mr. Jameson kennen Natalie oder Alice Kessler persönlich, und wir sind auch keine Freunde der Familie. Aber wir hätten sie erkannt.« Finch klopfte sich auf die Jackentasche und zog einen länglichen Umschlag heraus, den er Saisee gab, die ihn an Phinneaus weiterreichte. Dieser öffnete ihn und holte die Fotos hervor, die Stephen von der mittleren Tafel des Triptychons und der Zeichnung der Edells gemacht hatte.
»Ich weiß nicht, ob einer von Ihnen je von dem Künstler Thomas Bayber gehört hat. Mein Kollege Mr. Jameson hat meine Verdienste großzügig übertrieben. Bekannt und berühmt ist eher Mr. Baybers Werk. Die Zeichnung, die Sie auf der Fotografie sehen, ist eine seiner frühesten Arbeiten. Sie hängt im Haus der Kesslers in Connecticut, in dem beide Mädchen zur Welt gekommen sind.«
Finch bemerkte ein Aufblitzen von Neugier. »Stonehope Way 700?«, fragte Phinneaus interessiert. »In Woodridge?«
»Sie kennen das Haus?«
»Ich weiß, dass Natalie und Alice dort aufgewachsen sind.«
»Ja. Und dann sind sie aus diesem Haus recht abrupt verschwunden, als sie beide Anfang zwanzig waren. Sie waren nicht mehr aufzufinden.«
Phinneaus starrte das Bild von der Mitteltafel an. »Was bedeutet, dass jemand sie gesucht hat.«
Finch nickte.
»Dieser Mann«, sagte Phinneaus. Es war keine Frage.
Finch fühlte sich Thomas verpflichtet, nicht den Kesslers, und so hielt sich sein Beschützerinstinkt in Grenzen. Der erste Schock hatte sich nach und nach verflüchtigt, je häufiger er das Bild betrachtet hatte. Trotzdem erinnerte er sich noch gut an seine erste Reaktion – die unumstößliche Gewissheit, dass zwischen diesen drei Menschen etwas vorgefallen war, was nicht hätte geschehen dürfen. Jeden, der dieses Bild betrachtete, überkam ein unbehagliches Gefühl, so als wären Thomas, Natalie und Alice durch ein Stück Stacheldraht miteinander verbunden, das alle drei ins Herz stach. Zwischen den
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