Das Gewicht des Himmels
Alice der bessere Mensch ist, ganz gleich, welche Fehler die beiden auch haben mögen. Als ich das Bild zum ersten Mal sah, ging es mir ähnlich wie Ihnen. Ich musste mir in Erinnerung rufen, dass es ein Gemälde ist und keine Fotografie. Es ist Thomas’ Vision, Interpretation und Fantasie, die Sie da vor sich haben. Er ist alles andere als vollkommen, aber ich kann ihm sein Talent nicht absprechen, und das ist außerordentlich groß.«
»Sie haben ihm etwas versprochen. Dann ist er also ein Freund von Ihnen?«
Finch schüttelte lächelnd den Kopf. »Sie stellen eine komplizierte Frage. Es gab Zeiten, in denen ich glaubte, dass wir Freunde wären. Aber ich bin zu dem Schluss gelangt, dass er möglicherweise zu Freundschaft nicht fähig ist, wenigstens nicht so, wie Sie oder ich sie definieren würden. Ich beschäftige mich mit ihm und seiner Karriere mittlerweile länger, als ich denken kann. Wie viele andere Künstler, die ich kenne, ist er oft schwer zu verstehen und noch schwerer zu durchschauen. Thomas wird von inneren Dämonen gehetzt, er hatte, soviel ich weiß, keine Beziehung, die länger als ein Jahr gehalten hat, und er geht mit seiner Gesundheit grob fahrlässig um. Seine erste Reaktion auf alles und jeden ist Misstrauen, weil er glaubt, dass jeder etwas von ihm will.«
»Verzeihen Sie, aber das klingt nicht nach einem guten Menschen.«
»Nein. Ich zeichne ihn nicht in einem sehr günstigen Licht, oder? Aber die Sache ist die, Mr. Lapine: Trifft das nicht zu gewissen Zeiten auf uns alle zu? Meinen Sie nicht?«
Phinneaus überlegte. »Mag sein. Aber für mich ist das kein Grund, ihm zu helfen, und es erklärt auch nicht, warum Sie es wollen. Bezahlt er Sie?«
»Nein. Mein einziger Lohn wäre es, ein weiteres Bild von ihm zu sehen. Aber Sie wissen nichts über die beiden anderen Tafeln, oder?«
»Tut mir leid. Nein. Seltsam, dass es mir nie aufgefallen ist, aber bei Natalie und Alice hingen nie Bilder an den Wän den. Viele Spiegel – das lag sicher an Natalie –, aber keine Gemälde.«
»Sie mochten Natalie nicht?«
»Natalie ist vor einigen Monaten gestorben, also spielt es keine Rolle, ob ich sie mochte oder nicht.« Phinneaus klang ehrlich, aber auch unbeeindruckt. Finch verstand, dass sein Gegenüber seinen eigenen Ehrenkodex hatte, gegen den er nicht verstoßen würde.
»Mr. Lapine, ich muss Ihnen noch etwas sagen. Thomas hatte vergangenen Oktober einen Schlaganfall, fast unmittelbar, nachdem er Mr. Jameson und mich gebeten hat, die fehlenden Tafeln ausfindig zu machen. Er kann nicht sprechen und ist in sehr schlechtem Zustand. Die Ärzte sind nicht sehr optimistisch.« Finch holte tief Luft. Phinneaus verriet mit keiner Regung, ob er wusste, was er sagen wollte. Aber wenn Alice ihm nichts von ihrer Vergangenheit anvertraut hatte, wie viel durfte er ihm dann überhaupt erzählen, ohne ihn zu sehr aufzuwühlen?
»Als der Verantwortliche für die Katalogisierung von Baybers Werken erhielt ich Zugang zu seiner kompletten Korrespondenz. Zeitungsartikel, Briefe, Ausstellungsanfragen aus vielen Jahren mussten geprüft werden.« Finch räusperte sich. Wo war das verdammte Glas Wasser, wenn er es brauchte?
»Natalie Kessler hat Thomas im Spätfrühling oder Frühsommer 1972 eine Fotografie geschickt. Als Absender benutzte sie die Adresse des Hauses in Woodridge. Bayber hielt sich in diesem Jahr mehrere Monate in Europa auf und kehrte erst im Spätherbst in die Staaten zurück. Als er seine Korrespondenz gesichtet hatte, wollte er dringend mit den Schwestern Kontakt aufnehmen, vor allem mit Alice.«
»Wann haben Sie von der Existenz dieses Briefes er fahren?«
»Vor einigen Wochen.«
»Wenn Sie erst vor einigen Wochen davon erfahren haben, woher wissen Sie dann, dass er dringend mit Alice Kontakt aufnehmen wollte?«
Schweißperlen standen auf Finchs Stirn. In seiner Nervosität hatte er die Zehen so stark nach innen gerollt, dass er einen schmerzhaften Zehenkrampf bekam. Warum hatte er sich diese Aufgabe zugemutet – darüber zu spekulieren, was Alice und Natalie getan oder nicht getan hatten? Wieso hatte er nicht in seliger Unwissenheit verharren können? Das alles ging ihn doch eigentlich nichts an. Er war nicht geschaffen für ein Leben voller Verrat und Zweideutigkeit.
»Ich habe mehrere Briefe gefunden, die Thomas an Alice und Natalie geschrieben hat und die alle ungeöffnet zurückgesandt wurden. Ich glaube, es gab noch einen anderen Grund, weshalb er mich die Bilder suchen ließ, den
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