Das Gewicht des Himmels
erwartet hätte. Ist Ihnen diese Möglichkeit nie in den Sinn gekommen?«
Finch starrte ihn erstaunt an. »Ihnen etwa?«
»Na ja, statistisch gesehen war es eher unwahrscheinlich, aber wir wissen überhaupt nichts über die Frau und ihre Geschichte. Sie hat vielleicht geraucht oder hatte Krebs. Oder sie hatte es am Herzen oder hat sich einfach nur zu Tode gelangweilt.« Er verstummte. »Entschuldigen Sie.«
»Ich habe es ihm versprochen. Das war eine bodenlose Dummheit, aber so ist es nun mal. Jeden Tag, jeden einzelnen Tag, seit ich herausgefunden habe, dass Thomas eine Tochter hat, muss ich an Lydia denken und wie ich mich fühlen würde, wenn ich wüsste, dass ich irgendwo ein Kind habe und es nicht finden kann.«
»Dann habe ich Glück. Ich bin nur deprimiert wegen des Gemäldes.« Stephen setzte sich auf die Terrasse und rieb sich die Oberschenkel.
Finch bedachte ihn mit einem zornigen Blick. Es war ihm nicht klar, ob Stephen es ehrlich meinte oder ihn nur aufmuntern wollte. »Ich fasse es nicht, wie herzlos Sie sein können.«
»Sollten Sie aber. He, Finch, Sie geben viel zu schnell auf. Ich finde das frustrierend.«
»Sie haben gehört, was sie gesagt hat. Natalie Kessler ist tot.«
»Genau. Natalie Kessler ist tot. Von Alice hat keiner geredet.«
»Und was interessiert Sie an Alice Kessler, meine Herren, wenn ich fragen darf?«
Finch und Stephen sprangen auf. Ein großer rotblonder Mann stand, auf ein Jagdgewehr gelehnt, unten neben der Hausecke. Dann kam er mit baumelndem Gewehr auf sie zu und zog dabei ein Bein nach, Probleme mit dem Fahrgestell, hätte Finchs Vater das genannt. Zur gleichen Zeit öffnete sich die Haustür, und die Frau, mit der sie gesprochen hatten, reichte ein Glas Wasser heraus.
»Das ist Mr. Phinneaus Lapine«, sagte sie. »Wenn Sie etwas über Miss Natalie oder Miss Alice wissen wollen, fragen Sie am besten ihn.« Sie hielt Finch, der wie erstarrt auf der Treppe stand, das Glas hin. Einer echten Waffe war er noch nie so nahe gekommen. Jetzt braucht es wirklich Fingerspitzengefühl, dachte er und zwang sich zur Konzentration, obwohl in seinem Kopf dichter Nebel herrschte.
»Ja«, setzte er an, »Mr. Lapine …«
Aber bevor er weitersprechen konnte, sprang Stephen wie vorher Frankie von der Terrasse und streckte die Hand aus. »Phinneaus? Das ist aber ein interessanter Name. Aus der Bibel? Mythologie?«
Der Mann lächelte Stephen an, aber seine Hand lag weiterhin auf der Waffe. »Ich glaube, er geht auf Phineas T. Barnum zurück, aber meine Mutter war immer etwas eigen sinnig, wenn es um Schreibweisen ging. Vokale hat sie ganz besonders geliebt. Und Sie?«
»Jameson. Stephen Jameson. Oh, und das ist Professor Dennis Finch. Sie haben vielleicht von ihm gehört? Er würde es selbst nie erwähnen – bescheiden, wie er ist –, aber man hält sehr viel von ihm in der Kunstszene. Schriftsteller, Historiker, Dozent und so weiter. Es würde mich nicht wundern, wenn er sogar mal im Fernsehen aufgetreten ist.« Stephen sah hoffnungsvoll zu dem peinlich berührten Finch hinüber, der sich weit weg wünschte.
»Tatsächlich? Es tut mir leid, dass ich die Verbindung nicht sehe, aber was hat das alles mit den Kesslers zu tun?«
»Wir kommen natürlich wegen der Gemälde«, sagte Stephen. »Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Es ist schon spät. Uns ist allen kalt, und wir können das in kürzester Zeit regeln. So wie ich es sehe, werden Sie einen unan ständigen Haufen Geld verdienen, aber wenn Sie sich lieber auf den übergeordneten Wert konzentrieren wollen – große Kunst sollte man nicht für sich behalten. Gut, man kann es natürlich. Reiche Leute tun es ständig. Aber es ist egoistisch, finden Sie nicht auch? Darf ich Ihnen die Sache ins rechte Licht rücken? Es ist Ihre moralische Pflicht, diese Kunst mit der Welt zu teilen.«
Finch fuhr sich mit der Hand an die Stirn. Jetzt fühlte er sich wirklich krank. Er sank auf die Terrasse. Gleich würde ein Fremder mit einem merkwürdigen Namen auf ihn schießen, und so wie es aussah, kannte sich der Mann mit Feuerwaffen aus.
»Wir sollten ihn ins Haus bringen«, sagte Phinneaus.
Stephen schob die Hände unter Finchs Achseln und stellte ihn auf die Füße. Die Frau namens Saisee hielt die Tür auf und deutete auf ein Sofa im Wohnzimmer. »Legen Sie ihn da hin. Wer trinkt schon kaltes Wasser, wenn er krank ist? Er braucht Tee.«
Finch wollte protestieren, aber er musste feststellen, dass ihm die Beine den Dienst
Weitere Kostenlose Bücher