Das Gewicht des Himmels
hier nicht New York war, riss der Junge die Tür weit auf; offenbar hatte er keinerlei Bedenken, dass jemand etwas verkaufen oder um Taxigeld betteln wollte.
»Nö. Sie ist im Gefängnis. Sind Sie Lehrer?« Der Junge spähte an Finch vorbei zu Stephen, der auf der untersten Stufe wartete. »Wow! Was ist mit Ihrem Auge passiert, Mister? Haben Sie sich geprügelt?«
Stephen lächelte Finch an. »Darf ich antworten, oder wollen Sie immer noch das Reden übernehmen?«
Finch nickte schwach, in Gedanken noch immer bei dem Wort Gefängnis . Stephen stieg die Treppe hoch und ging vor dem Jungen in die Hocke. »Ich habe mich tatsächlich geprügelt. Mit einem großen, furchterregenden Mann. Wie du siehst, habe ich nicht gewonnen.«
Das Kind hielt einen Zeigefinger dicht vor Stephens Auge. »Ganz schön schlimm. Ich hab auch mal gekämpft. Onkel Phinneaus hat gesagt, er holt seinen Gürtel, wenn ich es noch mal mache.«
Finch hatte sich wieder gefangen und unternahm einen neuen Vorstoß. »Ist dein Onkel da? Vielleicht könnten wir mit ihm sprechen.«
»Nein, er ist bei uns daheim. Wir wohnen gegenüber.« Finch drehte sich um und sah ein hübsches, grau gestrichenes Holzhaus mit weißen Pfosten und einer überdachten Terrasse, die sich um das ganze Gebäude zog.
»Aha. Du lebst also da drüben mit deinem Onkel. Und die Kesslers wohnen hier in diesem Haus?«
»Jap.«
Finch war ungeheuer erleichtert, ja, geradezu erlöst. »Gut. Vielleicht kannst du uns dann helfen. Wir möchten gerne Natalie Kessler sprechen. Kennst du sie zufällig?«
»Miss Natalie. Na klar. Aber mit der können Sie auch nicht reden.« Der Junge beugte sich vor und flüsterte Stephen vernehmlich ins Ohr. »Die ist tot.«
Finch sank gegen den Türpfosten. Sein Körper reagierte auf diese Neuigkeit von oben nach unten: Schwindelgefühl im Kopf, Atemschwierigkeiten, enge Brust. Seine Arme wurden so schwer, dass er am liebsten Stephen gebeten hätte, sie abzuschrauben und zur Seite zu legen. Seine Knie gaben nach. Tränen stiegen ihm in die Augen. Auf einmal taten ihm alle leid, Alice und Natalie und Thomas, ihre Fehler und seine eigenen.
»Frankie, komm da weg. Was machst du denn da?« Eine Frauenstimme tönte durch den Flur, und der Junge wich zurück, bis er im Türrahmen stand.
»Die Männer wollen mit Miss Natalie reden, Saisee. Aber das können sie nicht, oder?«
»Lauf rüber. Hol deinen Onkel.«
»Ja, gut, aber der Mann da sieht krank aus, und der andere war in einer schlimmen Prügelei.« Der Junge schien eher interessiert als ängstlich, und es gefiel ihm nicht, dass er weggeschickt wurde und womöglich etwas verpasste. Die Frau sah ihn streng an, und er drehte sich um, sprang über drei Stufen von der Terrasse auf den Weg und rannte über die Straße.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Unverkennbares Misstrauen. Finch erkannte es an den abwehrend verschränkten Armen der Frau, den hochgezogenen Augenbrauen, dem Stirnrunzeln. Aber mittlerweile war es ihm egal. Er war schachmatt. Es würde keine unentdeckten Werke von Thomas Bayber und keine fröhliche Familienzusammenführung geben.
»Natalie Kessler ist tot?«, fragte er mit gepresster Stimme.
»Wer will das wissen?«
Stephen trat vor und legte die Hand auf Finchs Schulter. »Entschuldigen Sie, es ist für uns beide ein Schock. Wir suchen sie seit zwei Monaten.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Stephen Jameson, und das ist Professor Dennis Finch. Dürften wir Sie um ein Glas Wasser bitten? Professor Finch war krank, und ich mache mir Sorgen, dass er einen Rückfall hat. Nichts Ansteckendes, da bin ich mir ziemlich sicher.«
»Bleiben Sie hier.« Die Frau schlug die Haustür zu und Finch hörte das Klicken eines Riegels. Aha, dachte er, vielleicht doch nicht so anders als New York . Stephen klopfte ihm auf den Rücken, als wollte er einem Baby ein Rülpsen entlocken. Finch hob abwehrend die Hand und wankte matt und entmutigt ein Stück zur Seite.
»Ich verstehe ja, dass Sie helfen wollen, aber ich …« Er setzte sich auf den Rand der Terrasse und spürte die Kälte des Backsteinbelags durch die Hose.
»›Ist deine Mutter zu Hause?‹ Also ehrlich, Finch, glauben Sie nicht, dass der Kleine ein bisschen zu jung ist für eine einundsechzigjährige Mutter?« Stephen schnaubte. »Behaupten Sie bloß nicht, Sie hätten nicht über sie nachgegrübelt. Sie sehen sie immer nur in einem bestimmten Alter, und das geht mir auch so. Ich muss sagen, Sie nehmen sich das mehr zu Herzen, als ich
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