Das Gewicht des Himmels
könntest doch Jameson direkt anrufen, Denny. Wenn du ihm eine Chance geben würdest …«
Woher wusste Thomas das? Dylan Jameson war ein guter Bekannter von Finch gewesen. Sie hatten sich gemocht und geschätzt. Jameson war ein Mensch gewesen, den man sich als Künstler einfach zum Freund wünschen musste: ein Streiter für die Unbekannten und Übersehenen, ein Mann, in dessen Galerie freundliches Lachen und Lob von den Wänden widerhallten, ein Mann, der seine Meinung immer behutsam und ernsthaft darlegte. Zu Lebzeiten hatte er seinem Sohn den Rücken freigehalten, hatte die anderen besänftigt, wenn Stephen wieder einen Anfall von Geschwätzigkeit, Ungeduld oder Arroganz hatte. Weil die Menschen Dylan mochten, ließen sie seinem Sohn dieses Verhalten durchgehen. Stephen war jetzt Anfang dreißig und ließ sich seit dem Tod seines Vaters orientierungslos durchs Leben treiben. Er war ein seltsamer Kauz, sozial gestört und übermäßig sensibel. Aber er hatte ein fotografisches Gedächtnis und ein enzyklopädisches Allgemeinwissen. Wenn man den Gerüchten über ihn Glauben schenken konnte, hatte er sein großes Potenzial durch eine einzige unglückliche Entscheidung verschenkt.
Finch hatte einige Male mit Stephen zu Abend gegessen, nachdem Dylan gestorben war. Er redete sich ein, damit alte Schulden einzulösen; in Wirklichkeit aber genoss er es einfach, Termine in seinem Kalender stehen zu haben. Und es war anregend, mit Stephen zusammen zu sein, auch wenn der junge Mann generell zwischen Missmut und Grübelei schwankte und seine Standpunkte aggressiv vertrat. Nach ein oder zwei Gläsern Bushmills verfiel Stephen regelmäßig in Schwärmereien über irgendetwas, das er in Europa gesehen hatte, oder verwickelte Finch in eine leidenschaftliche Debatte über die Vorteile der Restauration gegenüber der Konservation.
»Schauen Sie bloß nach Indien. Diese Gesetze dort, die der Privatwirtschaft Knüppel zwischen die Beine werfen. Ganz klar eine Fehlsteuerung. Darum verfügen die meisten Institutionen nicht über die nötigen Ressourcen, und das führt dazu, dass die Kunst in irgendwelchen Depots vor sich hin gammelt«, hatte Stephen gesagt und sein Glas auf den Tisch geknallt, während er sich mit der anderen Hand erregt durch die Haare fuhr. »Die Luftfeuchtigkeit, die schlechten Aufbewahrungsmöglichkeiten – alle Werke, die ich gesehen habe, waren beschädigt. Es ist geradezu kriminell. Ich verstehe nicht, warum man dort nicht endlich vorwärtskommt.«
»Man wird Ihnen dort sicher sehr dankbar sein für Ihren Rat, Stephen, vor allem, weil Sie ihn so freundlich darlegen.«
Ihre Dispute endeten nur selten mit Einigkeit, denn dafür hätte es Kompromisse gebraucht, und der junge Jameson schien zu sehr von seiner eigenen Meinung überzeugt. Trotz allem schätzte es Finch, sich mit ihm auszutauschen. Die Treffen mit Stephen hielten ihn lebendig und gaben ihm einen Grund, seine Wohnung zu verlassen. Außerdem erhielten sie ihm einen letzten Rest seiner Würde, auf diese Weise konnte er nämlich einige von Lydias bemutternden Besuchen absagen.
Doch wie Thomas davon Wind bekommen hatte, konnte Finch sich nicht erklären. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Thomas ein großartiges soziales Leben führte, eher schien er vierundzwanzig Stunden am Tag in seiner dunklen Wohnung zu hocken. Und von dort wollte Finch jetzt so schnell wie möglich verschwinden.
»Jameson hat nicht die notwendigen Befugnisse, das Bild zu übernehmen. Das weißt du genau.«
»Ja.«
»Warum willst du ihn dann dabeihaben?«
»Weil ich gehört habe, dass er einen sehr guten Job macht.« Thomas drehte Finch den Rücken zu und fragte: »Oder soll ich die Vergangenheitsform benutzen?«
»Du kennst die Antwort selbst, ansonsten hättest du ihn nicht ins Spiel gebracht. Warum wendest du dich nicht direkt an Cranston, wenn du das Bild unbedingt verkaufen willst? Wieso überhaupt Murchison & Dunne? Was verschweigst du mir, Thomas? Ich habe keine Lust auf deine Spielchen.«
»Ich will jemanden, der dem Werk die angemessene Aufmerksamkeit zukommen lässt. Und der vollkommen neu-tral ist.«
Dass Thomas nun auch noch seine Neutralität infrage stellte, trieb Finch endgültig zur Tür. Wie herrlich wäre es, das alles endlich hinter sich zu lassen, dieses Kapitel seines Lebens zu beenden und sich anderen Dingen zuzuwenden. Aber Thomas lief ihm nach.
»Denny, du siehst das nicht objektiv genug. Wäre es angesichts meiner Lebensumstände nicht
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