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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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Die junge Frau bat sie ins Haus und nahm ihnen die Mäntel ab, die sie an eine Garderobe im Flur hängte. Dann rief sie vernehmlich: »Wir sind da!«
    Finch blieb stehen. Er war nicht darauf gefasst gewesen, das alles vor einer anderen Person durchstehen zu müssen, einem Ehemann oder Freund. »Wir stören Sie, und es ist bald Essenszeit. Bitte lassen Sie mich ein Taxi rufen, und wir reden ein andermal weiter.« Er verspürte einen starken Fluchtimpuls, aber Stephen stand kopfschüttelnd vor der Tür und versperrte den Weg.
    »Aber nein«, erwiderte Agnete. »Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass ich Sie fesseln würde, sobald Sie hier sind. Sie wollen doch bestimmt nicht gehen, bevor Sie alles gesehen haben.«
    Sie verschwand um eine Ecke, und als Finch zögerte, gab Stephen ihm einen Schubs. Finch ging einen kurzen Flur entlang und blieb dann so abrupt stehen, dass Stephen, der ihm auf den Fersen folgte, in ihn hineinlief und ihn fast die zwei Stufen, die ins Wohnzimmer führten, hinuntergestoßen hätte.
    Die beiden Frauen saßen in der Zimmerecke auf der Sitzbank vor dem Kamin. Stephen krallte die Hand so fest um Finchs Oberarm, dass dessen Finger beinahe taub wurden. Über dem Kamin hing ein Gemälde – die rechte Tafel des Triptychons. Es zeigte eine junge Natalie, auf einem Arm ein Kind, den anderen Arm nach etwas außerhalb des Rahmens ausgestreckt.
    Stephen stieß ein leises »Oh« aus und sackte mit einem uneleganten Rums auf die oberste Stufe. Die Frau, die neben Agnete saß, legte den Kopf schief und blickte Finch unverwandt an. Ihr Gesicht war von den Haaren umrahmt wie von einer Wolke aus verblasstem, silbern gesprenkeltem Gold. Ihre Augen waren noch genauso blau wie in ihrer Jugend, aber ihr Blick war intensiver und schärfer als erwartet. Finch begriff, dass Agnete ihren entschlossenen Blick nicht von Thomas, sondern von ihrer Mutter geerbt hatte.
    »Sie müssen Dennis Finch sein«, sagte Alice Kessler. »Wie ich höre, haben Sie mich gesucht.«

16
    I ch bitte sie, zum Abendessen zu bleiben, ja?«, hatte Agnete ihr ins Ohr geflüstert. Der Atemhauch ihrer Tochter war wie ein luftiger Flügelschlag, sie hätte die Empfindung gerne eingefangen und für immer aufbewahrt. »Ja«, hatte sie spontan erwidert, »das wäre nett.« Und nun stand sie in Agnetes Küche und rührte unbeholfen mit einem Holzlöffel in einem dickflüssigen Chili, während Mr. Jameson mit ihrer Tochter nach draußen gegangen war und sie zweifellos mit Fragen bestürmte, auf die sie keine Antworten wusste, und Professor Finch vor einem fast leeren Weinglas am Küchentisch saß und sie anstarrte, als wäre sie eine Fata Morgana.
    Dass sie sich so gefangen und gleichzeitig so erleichtert fühlen würde, hatte sie nicht erwartet. Ihr Körper haderte mit sich selbst: Der Rücken und die Schultern waren starr vor Anspannung, die Muskeln kraftlos wie Brei. Nun gut, sollten die beiden ihre Tochter aufklären. In den zwei kostbaren Tagen mit Agnete hatte sie es nicht geschafft, das Thema anzusprechen, hatte verzweifelt um die richtigen Worte gerungen. Thomas Bayber ist dein Vater . Das zumindest hatte sie hastig hervorgestoßen und dabei gespürt, wie sich etwas in ihr entkrampfte. Nun war seine Existenz bekannt – das war ihr Geschenk an ihn. Agnete hatte nicht weitergebohrt, aber Alice wusste, dass sie um Erklärungen nicht herumkommen würde. Wie konnte sie das Unvermeidliche ausdrücken? Es war leichter, wenn jemand ihr eine Rolle zuteilte – Täterin oder Opfer. Sie ließ den Kochlöffel los und schwenkte die rote Flüssigkeit in ihrem Glas, einen Kräutertee, den Agnete von einer Einheimischen hatte und der angeblich Heilkräfte besaß. Er schmeckte nach Sommer, nach Ringelblumen und etwas Scharfem, Fruchtigem.
    Sie beobachtete durch das Küchenfenster, wie ihre Tochter in der Abenddämmerung Stephen Jameson durch den Garten zog und ihm ihre anderen Werke zeigte. Die beiden dunklen Köpfe bewegten sich fast synchron. Solange Agnete in Sichtweite blieb, war alles in Ordnung, aber jedes Mal, wenn sie um eine Ecke verschwand oder im Haus in ein anderes Zimmer ging, wurde Alice unruhig und befürchtete, gleich in ihrem Bett in Tennessee aufzuwachen, allein und nichtsahnend.
    »Ihre Tochter ist sehr talentiert«, sagte Finch, mit dem Glas in Richtung Fenster deutend. Agnetes Hände tanzten durch die Luft, deuteten erst auf den Himmel und dann auf eine Skulptur. Stephen schien vollkommen absorbiert von den Objekten, er versetzte die

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