Das Gewicht des Himmels
Infoblatt.«
Das hatte ihn kalt erwischt. Er war nicht im Mindesten darauf gefasst gewesen, dass sie einfach über sie stolpern würden, gerade jetzt, da die Sache für ihn praktisch beendet war. Ich möchte mit ihr über einen Auftrag sprechen . Das war natürlich geschwindelt, aber als er den Satz ausgesprochen hatte, gab es kein Zurück mehr. Das zerknitterte Infoblatt hatte er sofort zusammengefaltet und in die Manteltasche gesteckt. Er wollte kein Foto von Agnete sehen. Sie mussten zuerst mit Alice reden, nicht mit ihrer Tochter. Sie konnten nichts mit Agnete besprechen, ohne Alice zu hintergehen, und das wollte er weder der jungen Frau antun, die ihn so durchdringend aus dem Gemälde heraus fixierte, noch der etwas älteren, glückstrahlenden Frau auf dem Foto.
»Sie meldet sich vielleicht gar nicht bei uns.«
»Warum sollte sie nicht, Finch? Sie ist Künstlerin, es geht um einen Auftrag, wahrscheinlich darbt sie – wie die meisten Künstler. Ich muss sagen, ihre Arbeit gefällt mir, wenigstens dieses eine Objekt. Es ist, als würde man in eine Pfütze schauen. Oder einen Zerrspiegel. Oder beides.«
»Schön. Sie machen ein Kaufangebot, und wir belassen es dabei.«
»Sie machen Witze.«
»Wer weiß.«
»Finch, wir müssen herausfinden, ob sie etwas über die Gemälde weiß. Aus diesem Grund sind wir doch hier. Wenn sie zufällig mit uns nach New York kommen und ihren Vater kennenlernen will, umso besser. Dann sind wir Helden auf ganzer Linie.«
»Helden?« Finch war fassungslos, wie leicht Stephen die größeren Zusammenhänge ausblenden konnte. »Glauben Sie im Ernst, dass Alice es so sehen wird? Meinen Sie nicht, es ist ihre Entscheidung, wann und was Agnete von Thomas erfahren sollte, wenn überhaupt? Solche Neuigkeiten will man doch nicht von völlig Fremden hören.«
»Aber wir haben Alice nicht gefunden, oder? Sollten Sie in dieser Sache nicht auf Baybers Seite stehen? Sollte er als Vater nicht ein Wörtchen mitzureden haben, ob sie es erfährt oder nicht?«
»Es geht nicht darum, auf wessen Seite man ist.«
»Finch, ich weiß, Sie halten mich für selbstsüchtig, und das stimmt auch in vielerlei Hinsicht. Das gebe ich ehrlich zu. Aber ich muss diese Gemälde sehen. Ich liege nachts wach und denke an Natalie und Alice und frage mich, ob ich mir alles richtig zusammenreime. Das Einzige, was ich habe, sind die Hände – sonst nichts. Ich weiß nicht, wie alt sie sind oder was sie anhaben, nicht, ob noch andere Menschen bei ihnen sind oder ob sie allein sind. Hören Sie mal, es geht mich nichts an, was für ein elendes Durcheinander sie in ihrem Leben angerichtet haben; es tut mir leid für sie, wenn das irgendwie zählt. Aber zum ersten Mal im Leben interessiert mich die Geschichte, Finch. Ich will wissen, was Bayber ausdrücken wollte, nicht nur, was auf den beiden Tafeln zu sehen ist. Zum ersten Mal kann ich mir vorstellen, was mein Vater empfunden hat. Wie kann es sein, dass Sie das nicht auch interessiert? Dass Sie nicht alles in Ihrer Macht Stehende tun wollen, um es zu erfahren?«
Finch hob abwehrend die Hände, er hatte genug gehört. Eine bleischwere Last senkte sich auf ihn, er hörte im Geist die Dominosteine gegeneinanderklicken, leise und unaufhaltsam. »Gut. Erledigt. Es spielt keine Rolle, ob ich es wissen will oder nicht. Es ist nicht mehr aufzuhalten.«
»Also was machen wir?«
»Wir warten auf Agnete.«
Sie rief am Nachmittag an, als sie in der Hotellobby saßen und Stephen sich mit Gratiscrackern, Käse und Sherry vollstopfte. Finch blickte auf die Krümellandschaft, die sich um die Serviette herum gebildet hatte – wenn Stephen nervös war, schlang er unterschiedslos alles in sich hinein. Er hatte sein Handy auf das Tischchen gelegt, und als es klingelte, fixierten sie es beide. Es vibrierte eine Weile auf dem dunklen Holz, bis Stephen es packte und Finch hinstreckte, weil er den Mund noch voll Käse hatte.
Ihre Stimme klang anders, als er es sich vorgestellt hatte, aber was hatte er sich überhaupt vorgestellt? Dass sie wie Alice klang, aber hatte Alice einen Klang? Eine intelligente Schüchternheit, stockend und melodisch? Die helle Stimme eines Singvogels, hoch oben in der Morgenluft? Oder Tho mas’ spröder, misstrauischer Tonfall, schnell und distanziert? All diese Annahmen wurden wahrscheinlich von seinen Schuldgefühlen gespeist. Agnetes Stimme war warm und vertrauensvoll. Sie würde gleich am Hotel vorbeikommen und sie abholen; sie könnten sich noch mehr von
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