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Das Gewicht des Himmels

Das Gewicht des Himmels

Titel: Das Gewicht des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tracy Guzeman
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eingezahlt. Sie wollte es später für Natalie verwenden, falls sie es im Alter brauchen würde. Aber laut Agnete haben die Geldgeschenke möglicherweise noch einen anderen Grund gehabt.« Alice blickte zur Tür und senkte die Stimme. »Sie wollte ihre Tante nicht hintergehen, indem sie es mir erzählte, aber ihrer Meinung nach sollte das Geld eine Art moralische Verpflichtung darstellen. Den letzten Scheck hat Agnete dann einfach zurückgeschickt. Das war der Brief mit dem Vermerk ›Zurück an den Absender‹, den Phinneaus gefunden hat, als er Natalies Sachen durchsah. Wir hatten beide angenommen, dass sie umgezogen wäre. Zum Glück haben wir uns getäuscht.«
    Alice schüttelte den Kopf. »Davon abgesehen … nun, sagen wir mal, wir gehen vorsichtig miteinander um. Ich finde meine Tochter unglaublich freundlich und geduldig. Woher sie das hat, weiß ich nicht.« Sie lächelte Finch an, aber ihre Augen waren feucht. »Natürlich hat sie Fragen. Und ich möchte auch so vieles von ihr wissen. Aber für unser Gespräch gibt es keine Gebrauchsanleitung, und ich brauche dringend eine.« Sie legte die Hand auf Finchs Arm. »Sie haben eine Tochter, sagten Sie?«
    »Lydia. Sie ist achtundzwanzig.«
    »Dann wissen Sie, was ich gerade erst anfange zu begreifen. Dass Eltern alles tun, um ihre Kinder zu beschützen.«
    Finch schloss einen Moment lang die Augen und dachte an seine Tochter. Er sah sie vor sich als kleines Mädchen, das auf Strümpfen auf ihn zurannte, wenn er nach der Ar beit durch die Haustür trat, die Arme um seine Taille schlang und sich auf seine Füße stellte, damit er sie ins Wohnzimmer mitnahm. »Ja«, sagte er. »Ich würde alles tun, um sie zu beschützen.«
    »Und wenn die Wahrheit – das, was Natalie mir oder besser uns beiden angetan hat – ihr Kummer macht? Was dann?«
    Finch dachte gründlich nach. Dann sagte er: »Agnete ist Ihr Kind, aber sie ist kein Kind mehr. Sie ist erwachsen. Ich denke, Sie sollten darauf vertrauen, dass sie aus dem, was Sie ihr erzählen, ihre eigenen Schlussfolgerungen zieht und ihre eigenen Urteile fällt.«
    Er legte die Mappe auf den Tisch, nahm die Karten heraus, die Natalie an Thomas geschickt hatte, und gab Alice eine nach der anderen. Sie hielt sie am Rand, als wären sie glühend heiß, und überflog sie kurz. Dann legte sie sie auf den Tisch und vergrub den Kopf in den Händen.
    »Alice, Ihre Schwester muss eine schwer gestörte junge Frau gewesen sein.«
    »Er hat gewusst, dass sie am Leben ist. Ich nicht.«
    Das hatte Finch schon fast vermutet, aber es war eine besonders grausame Vorstellung. Er hätte weder Natalie noch sonst jemandem so etwas zugetraut, hätte er nicht Thomas’ Gesichtsausdruck gesehen, als sich die vier Männer vor zwei Monaten den Mittelteil des Triptychons angeschaut hatten.
    »Was meinen Sie – wäre Thomas ein guter Vater ge wesen?«
    Finch dachte an die dunklen, verrauchten Zimmer, die leeren Schnapsflaschen, den Dreck. Wie intensiv hatte Tho mas nach den beiden gesucht? Stephen und er hatten ihre Schatzsuche innerhalb weniger Monate erfolgreich abgeschlossen, wenn auch mit viel Glück.
    »Vielleicht wäre er ein anderer geworden.« Das war durch die Blume geantwortet. Trotz allem empfand er Thomas gegenüber noch eine gewisse Loyalität. Wer sonst sollte sich als sein Fürsprecher betätigen?
    »Für ein Kind ist es eine sehr schwere Bürde, wenn man ihm die Verantwortung zuschiebt, das Beste aus seinem Vater herauszuholen.« Alice fuhr sich über das Gesicht. »Eltern, Kind, Tochter. Ich habe ein neues Vokabular, Worte, die mir nicht vertraut sind, jedenfalls nicht auf mich bezogen.«
    »Ist es wirklich so wichtig, dass Thomas von Anfang an gewusst hat, dass es sie gibt?«
    »Jeder von uns wusste nur so viel, wie Natalie ihn wissen ließ. Aber ich hatte die Chance, es ihm vorher zu sagen, und ich habe sie nicht ergriffen. Ich kann ihr fast alles vorwerfen, aber das nicht. Hätte ich nicht geglaubt, dass sie …«
    Offensichtlich hatte Alice mittlerweile Mühe, sich ihre Tochter anders als strahlend und lebendig vorzustellen. »Ich möchte gerne glauben, dass ich es ihm gleich nach ihrer Geburt gesagt hätte, dass ich meinen Zorn einfach hinuntergeschluckt und ihm die Gelegenheit gegeben hätte, sie kennenzulernen. Ein anderer zu werden, wie Sie es ausdrücken. Ich weiß nicht so recht, wie ich mir das je verzeihen soll.« Sie rubbelte mit der Fingerkuppe über einen Fleck auf der Tischplatte. »Das ist das Zweite, was ich ihm

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