Das Gewicht des Himmels
sie zwei Fremde mitnehmen würde. Sie fuhr schnell, aber souverän, nahm die Kurven, ohne auf die Bremse zu treten, und Finch kam der Gedanke, dass sie sich in einer Großstadt mühelos zurechtfinden würde. Sie würde sich gekonnt in den Verkehr einfädeln, rasch jede Parklücke erspähen und nutzen und die Beleidigungen weniger furchtloser Fahrer ignorieren.
»Hier sind wir«, erklärte sie nach kurzweiligen zehn Minuten. Sie hielten vor einem Mäuerchen, das auf beiden Seiten von dekorativen Grasbüscheln und überhängenden Ästen eingefasst war. Ein von Ziersträuchern mit roten Beeren gesäumter Steinplattenweg führte nicht ganz in der Mitte zum Haus, und neben diesem Durchgang befand sich an der Mauer ein Metallschild mit der Aufschrift »Calle Santa Isabel 11«. Das Mäuerchen war, wie bei vielen anderen Häusern, mit Papiertüten und Zederngirlanden weihnachtlich geschmückt.
»Ich habe ein paar kleinere Arbeiten im Vorgarten, die Sie sich anschauen können. Die größeren sind hinter dem Haus.«
Sie folgten ihr auf dem Plattenweg bis zum Vorgarten. Finch war begeistert. Er hörte den Springbrunnen, bevor er ihn sah, denn er war teilweise von Tontöpfen mit Kakteen und Stechpalmen und den kahlen Stämmchen radikal zurückgeschnittener Pflanzen verdeckt. Stephen stieß einen leisen Schrei aus, und als Finch sich umdrehte, sah er den Grund. Auf der anderen Gartenseite war alles in Bewegung; Objekte aus Edelstahl reflektierten das Licht in alle Richtungen. Eines erinnerte an einen Fischschwarm, und als Finch näher kam, sah er, dass die Bewegung von seinem eigenen Spiegelbild ausging, das, hier aufgebläht, dort geschrumpft, über das schimmernde Metall der Kunstwerke schwamm. Im Halbschatten eines kahlen Baumes stand eine Vogel-Skulptur, ein aufwirbelnder Schwarm, deren silberne Schwingen, dunkel bei wolkigem Himmel, aufleuchteten, sobald die Sonne hervorkam. Unentwegt fiel der Blick auf etwas Magisches, wunderbar Fließendes und täuschend Einfaches.
»Sie sind fantastisch«, sagte Stephen, der gerade ein stählernes Komma bewunderte, das stabil und schwer wirkte, aber nur auf einem dünnen Stab balancierte. Er wandte sich an Agnete, die mit verschränkten Armen dabeistand und die beiden betrachtete. »Wo um alles in der Welt haben Sie das gelernt? Wo haben Sie studiert?«
Finch wollte dasselbe wissen, hätte aber nicht danach gefragt. Noch nicht. Ihr Talent sprang ins Auge. Sie hatte die Fantasie ihres Vaters, seine Gabe, nicht nur das Vorhandene zu sehen, sondern auch den Raum dazwischen, und beides zu etwas Neuem zu verschmelzen. Ihre Werke hatten eine frische, spielerische Qualität, die ihn begeisterte. Dass er nie von ihr gehört, nie etwas von ihr gesehen hatte, machte ihm deutlich, wie sehr er sich abgekapselt hatte – über viele Jahre hatte er sich nur auf ein Thema konzentriert, auf Bayber, und alles andere ausgeblendet. Der Gedanke an all die Talente, die er verpasst hatte, machte ihn traurig. So viele aufstrebende Künstler kannte er nicht einmal.
Agnete zuckte die Achseln. »Eigentlich nirgendwo. Ich bin wohl ein Produkt meiner Umgebung. Hier ist so gut wie jeder ein Künstler. Sie wissen ja, was man sagt – es liegt einfach in der Luft.«
»Ich bin sehr beeindruckt«, sagte Finch. »Und das meine ich ernst. Ich sage so etwas nicht oft.«
»Das glaube ich Ihnen.« Sie lächelte. »Dann sind Sie ein Sammler?«
Ah, jetzt fingen die Probleme an. »Es gibt bestimmte Künstler, für die ich mich interessiere«, setzte er stockend zu einer Erklärung an, den Blick auf die Wolkenstreifen am Himmel gerichtet, als könnte eine göttliche Intervention ihn retten. »Allerdings hauptsächlich Bilder. Malen Sie, Miss Kessler?«
»Bitte nennen Sie mich Agnete. Oder Aggie, wenn Sie wollen. Ich habe früher gemalt, aber nicht besonders gut. Ich wollte immer wissen, was hinter der Leinwand vor sich geht. Fragen Sie sich das nicht auch, wenn Sie ein Bild sehen, das Sie fasziniert? Was sonst noch passiert, über das Sie nichts wissen?« Sie lachte. »Ich glaube, zwei Dimensionen reichen mir nicht.«
Stephen horchte auf. »So geht es mir auch. Was passiert sonst noch? Was wissen wir nicht?«
»Genau«, bestätigte sie erfreut. »Kommen Sie doch herein, und wir trinken zusammen einen Sherry, bevor wir nach hinten gehen.«
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen folgte Finch ihr zur Haustür, die in einem matten Orangerot gestrichen war, das zu Agnetes Stil passte – unaufdringlich, aber unverwechselbar.
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