Das Gewicht des Himmels
ihren fertigen Objekten ansehen und auch einige Stücke, an denen sie noch arbeite, im Atelier neben ihrem Haus, das in der Nähe der Plaza liege.
»Es ist nicht weit zu Fuß, wenn Sie lieber laufen möchten, aber Sie waren sicher schon den ganzen Morgen in der Stadt unterwegs. Wenn man sich hier nicht auskennt, kann man sich leicht verirren, und ich hätte nicht gerne, dass Sie mir abhandenkommen. Sie könnten bei jemand anders landen und sich dessen Kunst ansehen.« Sie lachte.
Finch stimmte ein, aber sein Lachen klang gezwungen. Scham nagte an seinen Eingeweiden. Sie war reizend. Er kam sich vor wie ein armseliger Wurm. Als er schließlich auflegte, trabte Stephen wie ein läufiger Hund um das Sofa herum, die Hände tief in den Taschen vergraben.
»Und?«
»Sie holt uns in einer halben Stunde ab. Wir fahren zu ihr nach Hause, in ihr Atelier, um uns ihre Arbeiten anzu sehen. Ich hoffe, Sie haben es vorhin ernst gemeint mit Ihrer Absicht, etwas zu kaufen.«
»Können Sie mir ein paar Dollar leihen?«
Finch wollte ihn nicht so leicht davonkommen lassen und zog ein grimmiges Gesicht. »Nein, aber davon sollten Sie sich nicht abhalten lassen.« Sie verzogen sich in ihre jeweiligen Zimmer, um sich frisch zu machen, und trafen sich fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit in der Lobby. Stephen hatte seinen Aktenkoffer dabei, und Finch um klammerte widerwillig eine schwarze Ledermappe, in der er wichtiges Material aufbewahrte, unter anderem die Fotos, die er zwei Tage zuvor Phinneaus gezeigt hatte. Nachdem er sich mit seiner Rolle abgefunden hatte, wollte er die ganze Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Er sah alle fünfzehn Sekunden auf die Uhr, in der Hoffnung, sie hätte es sich anders überlegt. Sie hatte sich nur sehr knapp beschrieben: dunkle Locken, blaue Augen, Arbeitsschuhe – praktisch für den Weg zwischen Haus und Atelier, hatte sie erklärt. Mehrere junge Frauen, die Agnete hätten sein können, durchquerten die Lobby, aber nicht eine von ihnen gönnte ihm einen Blick, was ihn wieder einmal daran erinnerte, dass das Alter ihn unsichtbar machte, ob es ihm nun gefiel oder nicht.
Dann war sie da. Er erkannte sie sofort und starrte entgeistert auf diese weibliche Version von Thomas, eines Thomas, den er so nie gekannt hatte – jünger, glücklicher, strotzend von Gesundheit. Agnete hatte das Beste von Thomas geerbt, das den weicheren Zügen, die sie von Alice hatte, mehr Kontur und Prägnanz gab. Ihre Augen waren genauso auffällig blau wie die ihrer Mutter, die helle Haut hatten beide Eltern. Ihre Haare waren so dunkel wie auf dem Kinderbild, rabenschwarze Locken fielen ihr schwung voll über die Schultern. Ihr Gang war elastisch, so als könnte ihre hochgewachsene, schlanke Gestalt so viel Energie nicht fassen. Aus den Augenwinkeln bemerkte Finch, dass ihr viele Blicke folgten.
Sie kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu, und Finch hatte das Gefühl, in ihren Bannkreis gezogen zu werden. Er fragte sich, ob sie Heilkräfte besaß, ob etwas von der Leben digkeit und Stärke dieser glücklichen, unversehrten Person, die Thomas mitgeschaffen hatte und die aus Fleisch und Blut statt aus Öl bestand, auf ihn übergehen könnte. Stephen stand mit gesenktem Blick hinter ihm, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Finch stieß ihn grob in die Rippen und ergriff die Hand der jungen Frau. »Agnete?«
»Sie müssen Professor Finch sein. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Und Sie sind Mr. Jameson?«
Stephen nickte und stammelte etwas, aber die Worte gin gen in einem Hustenanfall unter. Agnete schlug ihn herzhaft auf den Rücken. »Besser?«
»Ja, danke. Und nennen Sie mich Stephen. Mr. Cranston ist der Einzige, der mich Jameson nennt.«
»Mr. Cranston?«
Wieder ein Rippenstoß von Finch. »Es ist sehr nett von Ihnen, uns abzuholen. Wir hätten uns sicher auch allein behelfen können.«
»Durchaus nicht so nett, wie Sie denken. Sie sind jetzt meine Gefangenen, wissen Sie.«
Sie schenkte ihm ein kleines, vielsagendes Lächeln, das ihn überrumpelte – sie war ähnlich attraktiv wie Natalie, wirkte jedoch völlig ungekünstelt und warmherzig. Bevor er ihr Fragen stellen konnte, scheuchte sie die beiden zur Tür hinaus, und sie kletterten in einen alten, staubigen Volvo, Finch vorne und Stephen hinten. Finch wollte zwischen den beiden so viel Abstand wie möglich schaffen, da er Stephen nicht über den Weg traute. Das Innere des Fahrzeugs war makellos sauber, als hätte Agnete gewusst, dass
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