Das Gewicht des Himmels
beweglichen Teile mit dem Finger oder gezielten Atemstößen in schwingende Bewegung. Finch war froh, dass er aus dem Haus war, so konnte er endlich für eine Weile allein mit Alice reden.
»Und sie muss Zauberkräfte haben. Stephen ist sonst nur still, wenn er schläft oder isst. Agnete hat ihn verhext.« Finch trommelte ein rasantes Stakkato auf die Tischplatte, bis er merkte, dass Alice ihn beobachtete.
»Eine schlechte Angewohnheit«, entschuldigte er sich. »Das mache ich immer, wenn ich angespannt bin.«
»Mache ich Sie nervös?«
»Sie? Ganz und gar nicht. Nur das, was jetzt kommt.« Sie zuckte die Schultern, und seine Brille rutschte ihm noch tiefer auf die Nase. »Ich bin einfach überfordert. Ich war überzeugt davon, dass wir Sie nie finden würden. Ich habe nicht darüber nachgedacht, was passiert, wenn wir Sie finden.«
»Wenn es Sie beruhigt – wir sitzen im selben Boot.« Sie nahm die Weinflasche von der Ablage und füllte sein Glas nach. Dann setzte sie sich ihm gegenüber an den Tisch und goss mit beiden Händen Tee in ihren Becher.
Durch das viele Betrachten ihres Bildes in den letzten Monaten war sie ihm vertraut geworden, als hätte sie seinen prüfenden Blick aus dem Goldrahmen heraus erwidert und sei ihm ihrerseits nähergekommen. Jetzt wurde ihm be wusst, dass er über die lebendige Alice, die ihm gegenübersaß und von seiner Existenz keine Ahnung gehabt hatte, überhaupt nichts wusste. Phinneaus hätte ihn wenigstens andeutungsweise auf ihre Krankheit vorbereiten können, aber er hatte geschwiegen, weil er nur eines wollte: sie beschützen. Das nötigte Finch widerwillig Respekt ab, denn er wusste, dass er für Claire dasselbe getan hätte.
»Ich würde gerne mittrommeln«, sagte sie mit einem Blick auf seine Hände. »Für mich ist es immer noch schön zu sehen, wenn ein Körper normal funktioniert. Es ist nicht ganz dasselbe wie ein Phantomschmerz, aber ich kann Ihre Bewegungen fast in meinen Fingern spüren, als eine Art leise Erinnerung. Als würde mich ein freundlicher Geist heimsuchen.«
»Das klingt, als hätten Sie schon eine ganze Weile damit zu kämpfen.«
»Seit ich vierzehn war.«
Er erschrak. Mit vierzehn hatte Lydia Klaviersonaten gespielt und war mit ihren Freundinnen die Straße auf und ab gerannt, so schnell, dass man ihre Beine kaum sah. Er versuchte, sich eine verlorene Jugend, ein Leben mit körper lichen Schmerzen vorzustellen. »Sie leben praktisch schon immer mit dem Schmerz?«
Sie nickte und lächelte ironisch. »Mein treuester Be gleiter.«
»Dann waren Sie krank, als Sie schwanger wurden.« Er hörte im Geist Phinneaus Worte: Was immer Sie über Alice denken, ist falsch . »Es tut mir leid. Das geht mich nichts an.«
Alice lachte, und die Röte stieg ihm ins Gesicht, als er merkte, dass sie ihn – wenn auch nicht unfreundlich – auslachte. »Vermutlich gehe ich Sie seit Monaten etwas an, Professor Finch. Es ist nicht ungewöhnlich, dass es Arthritis-Patientinnen während der Schwangerschaft besser geht. Vorher und nachher bekam ich die übliche Behandlung: Cortison, Goldspritzen, Antimalariamittel, D-Penicillamin, Methotrexat. Manches hat eine Weile gewirkt. Das meiste nicht.«
Sie stellte den Becher ab und rieb sich die Hände. »Es gibt ein ganzes ABC von angeblichen Heilmitteln für meine Krankheit, von denen ich die wenigsten noch nicht ausprobiert habe: K wie Krähenfleisch – in Alkohol einge legt ist das eine alte chinesische Arznei. R wie Regenwürmer, man bewahrt sie ein paar Wochen lang in einem Behälter an einem dunklen Ort auf und reibt dann das ranzige Öl auf die befallenen Gelenke. Und W für toter Wal – man muss in seinem Brustkorb stehen. Ich habe leider keinen gefunden. Ich muss gestehen, dass ich barfuß durch Weih nachtsschnee gelaufen bin – das war mein B –, und dann gab es da noch Grünlippmuscheln, Gin – den mochte ich übrigens sehr –, Bienengift und Brennnesseln. Wenn ich sehr verzweifelt war, dachte ich: Wenn es bei irgendwem gewirkt hat, warum dann nicht bei mir?«
»Aber Sie sind weiter zur Schule gegangen. Ihr Abschluss an der Wesleyan, Ihr Studium …«
»An einer konfessionellen Universität, mit einem Stipen dium. Welches mir entzogen wurde, als sie merkten, dass ich schwanger war. Und unverheiratet – nicht gerade im Einklang mit ihrem Moralkodex. Aber ganz so schlimm war das gar nicht. Das Leben, wie ich es mir vorgestellt hatte, rückte sowieso immer weiter weg.« Sie hob die Hände. »Ornithologie.
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