Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
betrachtete Tahns Gesicht einen Moment lang ganz genau, musterte jeden seiner Züge, als hätte er Tahn noch nie zuvor gesehen. Dann stemmte er sich auf die Ellbogen hoch und verzog bei der Anstrengung das Gesicht. »Wir müssen weiter. Wo einer von denen ist, sind vielleicht noch mehr. Ich kann dir nicht versprechen, dich mehr als einmal am Tag zu retten.«
Während sein Freund nach Balsamwurzeln suchte, füllte Tahn die Wasserschläuche und machte die Pferde bereit. Sutter zermalmte die frisch geernteten Wurzeln zu einer Paste, die er und Tahn großzügig auf ihre vielen kleinen Abschürfungen und Schnittwunden strichen, um sie anschließend mit Stoffstreifen zu verbinden. Sie grinsten einander an, als sie sich mit ähnlich dick umwickelten Hälsen gegenüberstanden. Sutter legte einen Balsamumschlag auf die Schnittwunden an seinen Unterarmen. Tahn steckte sich etwas von der Paste in den Mund und sog den bittersüßen Saft heraus, um das schmerzhafte Pochen in seinem Fuß zu lindern.
Ehe sie aufbrachen, schleiften sie den Fährtenleser zum Fluss und ließen ihn mit dem Gesicht nach unten im flachen Wasser liegen. Tahn sank neben der Leiche auf die Knie. Die Panik, keine Luft zu bekommen, brannte noch in seiner Brust. Er ließ seinen Bogen fallen und blickte zu Sutter auf, der mit verzerrtem Gesicht vor dem Stilletreuen stand.
In plötzlicher Wut riss Sutter das Schwert hoch und ließ es mit einem wilden Schrei auf die leblose Gestalt herabsausen. Blutiges Wasser spritzte auf, die Leiche schaukelte auf dem Wasser, und rötliche Wellen breiteten sich darum aus. Dann sank auch Sutter auf die Knie. Wasser spritzte von seinen Beinen hoch in sein bleiches Gesicht, das von Entsetzen und Angst gezeichnet war.
»Das Ding ist tot«, verkündete er mit lauter Stimme. »Es ist tot«, wiederholte er flüsternd.
Sutter stand unter Schock. Dagegen gab es wohl keine Wurzel, die sein Freund hätte ausgraben können, vermutete Tahn. Diese ganze Sache war verrückt.
Sutter schob die Gestalt vom Ufer weg in tieferes Wasser, wo die Strömung sie erfasste und flussabwärts zog. Der Fluss spiegelte den Abendhimmel, und Tahn sah zu, wie der Fährtenleser auf dem dunkelroten Wasser davontrieb. Bald hätte man den Umriss für nichts weiter als einen umgestürzten Baumstamm halten können, der von einem kräftigen Regenguss ins Wasser gespült worden war. Kurz darauf war die Leiche nach Süden außer Sicht geschwemmt.
»Ich habe das Ding nicht kommen hören«, sagte Tahn.
Sutter beobachtete weiterhin die Stelle, an der die Leiche verschwunden war. Er schüttelte den Kopf. »Es hat keinerlei Geräusch gemacht. Sogar im Wasser waren seine Schritte lautlos.« Seine Hände und Arme zitterten vor Kälte, Angst und Erschöpfung. Die Klinge hing von seinen Händen ins Wasser. »Wir haben Glück gehabt. Ich war meinem Grab noch nie so nahe.«
Tahn folgte seinem Blick. »Das waren Glück und Mut.«
Sutter schüttelte den Kopf. »Instinkt. Überlebenstrieb.«
»Auch das«, gab Tahn zu. »Aber wir haben es genauso besiegt, wie wir auch Maxon Drell oder Fig Sholeer immer kleingekriegt haben. Ein Kämpfer kann sich nicht auf zwei Gegner zugleich konzentrieren.«
»Ja, aber du warst lange unter Wasser. Ich war sicher, dass du schon ertrunken wärst.«
»Ich?«, entgegnete Tahn mit gespielter Überheblichkeit. »Ich wollte dir nur Gelegenheit geben, mal dieses Schwert auszuprobieren.«
Sutter drehte sich wieder zu Tahn um, und die beiden lachten nervös.
Als es wieder still war, sah Sutter Tahn eindringlich an. »Weißt du, woran ich gedacht habe?«
Tahn verstand die Frage nicht.
»Als ich dachte, das Ding würde uns töten. Als ich dachte, es wäre endgültig vorbei.« Ein gequälter Ausdruck lag auf Sutters angespannten Zügen. »An diesen Bauernhof habe ich gedacht. An Vater und Mutter, die jetzt glauben müssen, ich hätte mich von ihnen nicht genug geliebt gefühlt. Dass sie irgendwie versagt hätten. Und bei diesem Gedanken wollte ich dieses Ding töten, damit ich zu ihnen zurückkehren und ihnen die Wahrheit sagen kann.« Er hielt inne und schluckte schwer. »Andererseits habe ich mich gefragt … na ja, wenn ich gleich heute sterbe …«
Tahn schaute auf den Fluss hinaus und nahm dieses Eingeständnis an, ohne es zu beurteilen oder zu kommentieren.
Aber sein Freund hatte eine Saite in ihm berührt. »Weißt du, woran ich gedacht habe?«
Sutter wischte sich die feuchten Augen und schüttelte den Kopf.
»Ich habe an die
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