Das Gewölbe des Himmels 1: Der Vergessene (German Edition)
Beerdigungen meiner Eltern gedacht. Wie es sich angehört hat, als sie mit Erde bedeckt wurden, eine Schaufel nach der anderen. Und ich habe an Wendra gedacht und daran, dass ich nicht da war, sie nicht beschützen konnte, als sie vergewaltigt wurde.« Tahn tadelte sich selbst mit einem Kopfschütteln. »Aber dann habe ich gesehen, wie sehr sie sich auf ihr Kind gefreut hat. Sie ist die einzige Familie, die ich noch habe, und es war schön, sie wieder singen zu hören.« Ihm selbst schnürte es die Kehle zu. »Dann musste ich daran denken, wie sie ihr Baby verloren hat.«
Und endlich vertraute Tahn jemandem sein Geheimnis an – den unerklärlichen Zwang, diese Worte zu sprechen, ehe er auch nur einen einzigen Pfeil abschießen konnte. Er erzählte seinem Freund auch, wie ihn dieser Spruch daran gehindert hatte, seiner Schwester im Augenblick ihrer größten Not bei zustehen. Und als er fertig war, senkte er den Kopf und weinte. Denn jetzt hatte er sie verloren, in einer Welt, die von Stilletreuen durchstreift wurde. Sie war zu weit fort, alle Himmel mochten wissen, wo, als dass er etwas wiedergutmachen könnte. Denn erneut hatten seine Ängste und seine eigene Not ihn dazu gebracht, sie im Stich zu lassen, als sie ihn am meisten gebraucht hätte.
Schließlich blickte Tahn zu seinem Freund auf. Da saß er nass und blutend neben ihm, ein geschenktes Schwert quer über den Knien, noch keinen ganzen Tag vom Gift des Borns geheilt, und dennoch war ihm fast nichts so wichtig wie die Gefühle zweier Menschen, die ihn gelehrt hatten, Rüben und Kartoffeln anzubauen.
Und dieses fast nichts – abgesehen vom zornigen Gepolter über dieses Abenteuer – war Tahn.
Vielleicht hatten sie beide ein wenig mehr Familie, als sie bisher gezählt hatten.
Das war zwar kein Geheimnis, aber es brauchte auch nicht ausgesprochen zu werden.
Unter dem purpurrot und violett gefärbten Himmel führten sie ihre Pferde nordwärts. Sie folgten dem Fluss, aber im Schutz der Bäume, und legten die Waffen nicht wieder aus der Hand. Einige Stunden später gingen sie wieder zum Fluss hinunter und fanden eine kleine Höhle an einer steilen Uferstelle, von der das Wasser sich zurückgezogen hatte. Dort schlugen sie ihr Lager auf und verzehrten ein kaltes Abendbrot, um sich nicht durch den Geruch von Rauch im Wind zu verraten. Sutter übernahm die erste Wache, und Tahn fand endlich Schlaf.
Bilder von seiner Flucht vor dem Nebel kreiselten durch seine Träume wie Blätter im Strudel eines Flusses. Darunter lag der vage Eindruck von ausgedörrter Erde, die sich anfühlte wie endlos von der brutalen Sonne geplagt und zugleich vom Übel des Borns vergiftet. Und ein gesichtsloser Mann lehrte ihn, mit dem Bogen zu zielen … Als Tahn aus seinem unruhigen Schlaf erwachte, standen die Sterne noch am Himmel.
Obwohl er so erschöpft war, blieb Tahn wach und starrte in das Firmament. In wenigen Augenblicken würde auch das Land aus seiner nächtlichen Ruhe erwachen.
Ein dumpfer Schmerz in seinem Fuß lenkte seine Gedanken zu dem Freund, der nur ein paar Schritte entfernt eingeschlafen war. Sie hätten auf einem Jagdausflug sein können, vom Helligtal nach Osten in die Ruleg-Hügel oder sogar bis zur Aela, allen Ermahnungen von Balatin und Filmoere zum Trotz. Dann hätten sie von den Mädchen gesprochen, die in letzter Zeit Einstand gefeiert hatten, sogar von Wendra, und darüber gelacht, dass ihnen selbst immer noch kein anständiger Bart wuchs. Tahn hätte Sutter unablässig wegen seiner schmutzigen Fingernägel aufgezogen, wohl wissend, wie sehr sein Freund sich danach sehnte, etwas zu tun, das er für bedeutend hielt. Und Sutter hätte ihn ganz sicher dafür gescholten, dass er so ein Einzelgänger war, die meiste Zeit im Wald verbrachte und ein wenig zu sehr nach dem Wild roch, das er jagte. Sie hätten stundenlang in den Teichen beim Gehardskamm gerangelt und sich immer wieder gegenseitig unter Wasser gedrückt. Und wenn es dann dunkel geworden wäre, hätte der Duft von Entenbraten über einem Zedernholzfeuer ihren Hunger besänftigt und ihre Sinne wiederbelebt. Kurz vor dem Einschlafen hätten sie einander ihre Ängste und Hoffnungen anvertraut, und begleitet von den Rufen der Seetaucher und den Sternen, die ihnen durch die Zweige zuzwinkerten, wäre die Zukunft ihnen in ihre Träume gefolgt.
Tahns Fuß zwickte und erinnerte ihn daran, dass er und Sutter diese Nacht weit fort von den Teichen und dem Helligtal verbracht hatten. Und die Zukunft war
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